Zärtlicher Hinterhalt
überwältigt bei den Damen bedankte, während Hannah daneben stand und einen fassungslosen Dougald angrinste.
Aber der gesunde Menschenverstand holte sie immer wieder aus ihren Tagträumen in die Wirklichkeit zurück. Eine Wirklichkeit, in der Queen Victoria niemals die Zeit zu solch einer Aktion finden würde. Eine Wirklichkeit, die von liebenswerten alten Damen bevölkert wurde, einem Gecken von Erben, Charles, jeder Menge Bediensteter, die nicht wussten, wie sie mit Hannah umgehen sollten – und einem Ehemann, der sie erst in eine Falle lockte, dann bedrohte und jetzt hartnäckig ignorierte.
Eine Wirklichkeit, die sie nicht verlassen konnte. Denn wenn sie ging, ohne zuvor ihre Großeltern ausfindig gemacht zu haben, würde sie es ewig bereuen. Sogar wenn die beiden sie am Ende gar nicht kennen lernen wollten.
»Er sieht recht gut aus, oder?« Tante Spring berührte vorsichtig den Wandteppich.
»… ist absolut perfekt!« Hannah betrachtete die freundliche, kleine, grauhaarige Lady neben sich. Miss Minnie hatte die Augen geschlossen und sammelte ihre Kraft für den Rest des Tages. Dies war Hannahs Chance, ungestört die Frage zu stellen, die sie plagte, seit sie das Handarbeitszimmer zum ersten Mal betreten hatte. Wenn sie die Sache selber in die Hand nehmen wollte, war das jetzt der geeignete Moment. »Tante Spring, haben Sie die Burroughs nun eigentlich eingeladen?«
»Oh, Liebes! Hätte ich das tun sollen?«
Verzagt senkte Hannah kurz den Kopf. Dies war der Grund, weshalb Tante Spring eine Gesellschafterin brauchte. Sie vergaß manchmal etwas. Kleine Dinge wie die Sache mit den Burroughs. Große Dinge wie den Weg zu ihrem Schlafzimmer. Jeder war ihr behilflich. Die anderen Tanten, Hannah, Mrs. Trenchard, Sir Onslow, die Diener … aber man konnte sie nicht mehr allein lassen. Sie wäre verloren gewesen in den endlosen Fluren Raeburn Castles.
»Ich kann sie aber einladen, wenn Sie wollen«, sagte Tante Spring. .»Kennen Sie die Burroughs denn?«
»Nicht persönlich. Ich habe nur von ihnen gehört.«
»Dann haben vielleicht Ihre Eltern sie gekannt?«
»Ja.« Oh, ja. »Meine Eltern, ja!«
»Die Burroughs sind ein reizendes Ehepaar, ein wenig älter als ich.« Tante Spring kam ein Stück näher und flüsterte: »Ich mag zwar keinen Klatsch …«
Die Tanten
liebten
Klatschgeschichten.
»… aber sie sind immer etwas hochnäsig gewesen.«
Das wusste Hannah. Besser als irgendwer sonst. »Weshalb?«
Tante Spring zuckte mit dem Anflug vom Hochmut einer Grafentochter die Achseln. »Das Übliche. Sie haben Geld, die Familie lebt seit Anbeginn der Zeit hier. Aber beide waren sie die Letzten ihrer Linien. Und sie hatten nur ein einziges Kind, einen Sohn – der, ohne einen Erben zu hinterlassen, gestorben ist. Sie sind sehr einsam jetzt.« Sie schniefte. »Ich habe ihnen gesagt, dass sie diese junge Frau nicht fortjagen sollen, aber sie wollten nicht hören.«
Hannah sehnte sich so danach, die Geschichte von einer Außenstehenden zu hören und endlich herauszufinden, was in jenem Sommer vor achtundzwanzig Jahren wirklich passiert war. Also fragte sie: »Was für eine junge Frau?«
»Miss Carola Tomlinson.«
Der Name dröhnte in Hannahs Ohren.
»Sie hat Henry so geliebt.«
»Henry«, versuchte sich Hannah an dem Namen. Der Name ihres Vaters war also Henry gewesen.
»Er hat sie auch geliebt, aber er war einer von diesen jungen Männern, die … die ohne wirklichen Charakter lieben.« Tante Spring spielte am Rahmen des Webstuhls herum. »Sie war so hübsch.«
Hannah erinnerte sich daran, wie sie ihre Mutter angesehen und sie für die schönste Frau der Welt gehalten hatte. Erst als Hannah älter geworden war, hatte sie die Sorgenfalten bemerkt und die dunklen Ringe, die ihr die viel zu harte Arbeit unter den Augen eingetragen hatte. »Ja.«
»Aber sie hatte keine Familie. Sie war nur Gouvernante. Bei einer benachbarten Familie.«
Hannah zuckte zusammen.
»Also hat man sie fortgeschickt, und er hat es zugelassen.« Tante Spring hob die tränennassen Augen. »Dann ist er in schlechte Gesellschaft geraten und keine drei Monate später bei einer Schlägerei in einem Pub ums Leben gekommen.«
»Also hat er sie auch nie zurückholen können.« Hannah wusste von ihrer Mutter, dass er tot war – auch wenn sie nie herausbekommen hatte, wie Carola es erfahren hatte. Manchmal half es, sich vorzustellen, wie unglücklich Vater mit seiner Entscheidung gewesen war. Oder sich vorzustellen, welch ungute Last es
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