Zärtlicher Hinterhalt
eigenes Halstuch hüpfte beim Schlucken. »Mylord, es hat einen Unfall gegeben.«
Mylord fixierte seinen Mann. Er hatte Charles nie so aufgeregt erlebt. Nichts konnte die langmütige, französische Gelassenheit des Kammerdieners erschüttern. Und der Unfall eines Handwerkers ganz bestimmt nicht. Dougald griff zu seiner Weste und zog sie über. »Was für ein Unfall?« Dann begriff er. »Eine der Tanten?« Unerwartet ergriff ihn reinste Panik. »Nicht eine von den Tanten!« Weshalb sorgte er sich plötzlich so? Es bestand nicht einmal eine echte Verwandtschaft. Eine Plage waren sie und eine Last.
»Nein, Mylord.
Madame …
Miss Setterington … sie ist im Boden eingebrochen.«
Dougald war fassungslos und rief ohne nachzudenken aus: »Das kann nicht sein. Sie ist gerade erst …« Er fing sich im letzten Moment. Aber es stimmte, Hannah hatte ihn vor knapp einer Stunde verlassen – zu wenig Zeit, sich anzukleiden
und
in Schwierigkeiten zu geraten.
Aber Charles nickte und tupfte sich sogar mit dem Taschentuch die Nase.
Grob packte Dougald ihn bei den Schultern. »Ist sie am Leben?«
»Oui, Mylord. Aber ich fürchte, das Bein …«
»Was?«
»Ist vielleicht gebrochen.«
»Gut.« Nein, gut war es nicht, aber von einem Beinbruch würde Hannah sich erholen. Verdammt, sie würde wieder gesund werden!
»Wo ist sie?«
»Man trägt sie soeben in ihre Schlafkammer.«
Dougald stürzte Richtung Tür.
»Bitte, Mylord. Die Schuhe!«
»Vergessen Sie die Schuhe!« Aber vielleicht musste er ja jemandem einen Tritt in den Hintern verpassen. »Nein, nehmen Sie sie mit.«
Im nächsten Augenblick traf er auf die kleine Prozession. Mrs. Trenchard ging voran, an ihrer Seite eine der Serviererinnen mit einem schwarzen Kasten unterm Arm. Hannah hatte zwei stämmigen Lakaien die Arme um die Schultern gelegt. Sie hüpfte auf einem Bein, den Rock zerrissen, die Lippen zum Strich gepresst, ein militantes Blitzen im Blick. Als sie Dougald entdeckte, legte sie sofort los: »Lord Raeburn, Sie müssen den Arbeitern klarmachen, dass alles, was die Tanten tangieren könnte, abends abgesichert werden muss. Wenn ich nicht schon vor der Ankunft der Damen ins Handarbeitszimmer gegangen wäre, hätte sich eine von ihnen ernstlich verletzen können!«
Dougalds Herz fing wieder zu schlagen an. Hannah war verletzt; aber wenn sie bellte, konnte es nicht so schlimm sein.
Er besaß gerade noch genug Verstand, sie nicht in seine Arme zu reißen. »Wo hast du dich verletzt?«
»Am Fuß«, schnappte Hannah.
Ja, sie würde sich bestens erholen.
»Ich war auf dem Treppenabsatz vorm Handarbeitszimmer der Tanten«, fuhr sie fort. »Eine Diele ist unter mir durchgebrochen.«
Auffordernd schaute Dougald zu Charles hinüber. Charles reichte ihm die Schuhe, drückte sich an der kleinen Gruppe vorbei und verschwand zum Unfallort.
»Während ich die Stufen hinaufstieg, habe ich gut aufgepasst. Aber am Treppenabsatz hatten die Zimmerleute ja gar nichts gemacht.«
Dougald bemerkte überrascht, dass ihre Stimme wankte.
»Mein Fuß ist in den Boden eingebrochen. Dann hat die ganze Diele nachgegeben, und ich bin hingefallen.« Ihre Lider flatterten. »Wenn ich nicht den Handlauf zu fassen bekommen hätte, wäre ich nach unten gestürzt. Und ich konnte mich nicht nach oben ziehen, weil die Diele ja nach unten …«
Zur Hölle mit der Vernunft! Seine nicht unterzukriegende Frau
weinte.
Dougald ließ die Schuhe fallen, schob die Lakaien zur Seite und nahm sie zärtlich in die Arme. Die Lakaien entfernten sich ein Stück und wagten es nicht einmal, verblüfft dreinzuschauen. Hannah wehrte sich nur einen kurzen Augenblick; dann klammerte sie sich an ihn, als sei er ihr Fels in der Brandung. Unter anderen Umständen hätte er seine helle Freude an ihrer Anschmiegsamkeit gehabt und die Situation ausgenutzt, Aber jetzt musste das genug sein.
Hannah flüsterte: »Wenn Mrs. Trenchard mich nicht gefunden hätte, weiß ich nicht, was ich getan hätte.«
Dougald machte sich im Geiste eine Notiz, seiner Haushälterin eine großzügige Gratifikation zukommen zu lassen.
»Mylord, bitte hier herein!« Mrs. Trenchard stand auf der Schwelle zu Hannahs Schlafkammer.
Mit finsterer Miene trug Dougald Hannah zum Bett. Was hatte er sich nur dabei gedacht, sie in diesem Loch unterzubringen? Im Sonnenlicht, das durchs Fenster hereinfiel, wirkt der Raum sogar noch schäbiger als des Nachts. Wenn Hannah sich erholen sollte, war dies der denkbar schlechteste Platz. Und wie war es
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