Zärtlicher Nachtwind - Kleypas, L: Zärtlicher Nachtwind - Tempt me at Twilight
unterschiedlichsten Besorgungen aufbrach: Win und Amelia besuchten einen kränklichen Freund aus dem Dorf, Leo und Merripen trafen sich mit einem potenziellen neuen Pächter, und Cam war auf eine Pferdeauktion nach Southampton gefahren.
Harry saß an einem Tisch im Bibliothekszimmer über einem detaillierten Bericht von Jake Valentine. Er genoss die Ruhe und den Frieden – ein seltener Moment im Haushalt der Hathaways – und begann zu lesen. Da erregte eine knarzende Diele seine Aufmerksamkeit, und er blickte zur Tür.
Catherine Marks stand auf der Schwelle, ein Buch in der Hand, ihre Wangen gerötet. »Entschuldige«, sagte sie. »Ich wollte dich nicht stören. Ich wollte nur ein Buch zurückgeben, aber …«
»Komm herein«, forderte Harry sie auf und stand von seinem Stuhl auf. »Du störst überhaupt nicht.«
»Es dauert nur eine Sekunde.« Sie eilte zu einem Bücherregal, stellte den Band zurück und hielt inne, um einen Blick auf Harry zu werfen. Sonnenlicht fiel durch das Fenster herein und spiegelte sich in ihrer Brille, so dass ihre Augen hinter den Lichtreflexen verborgen waren.
»Du kannst gern hierbleiben«, sagte Harry verle-gen.
»Nein, danke. Es ist so ein wunderschöner Tag, und ich dachte, ich könnte einfach ein bisschen durch die Gärten laufen, oder …« Sie hielt inne und zuckte nervös mit den Schultern.
Gott, wie unwohl sie sich miteinander fühlten. Harry betrachtete sie einen Augenblick lang und fragte sich, was sie bekümmerte. Er hatte nie gewusst, was er mit ihr anfangen sollte, mit dieser unerwünschten Halbschwester, welchen Platz in seinem Leben er ihr geben wollte. Er hatte nie den Wunsch gehabt, sich um Catherine zu kümmern, und doch hatte sie ihn in seinen Gedanken nie in Ruhe gelassen, er hatte sich immer Sorgen um sie gemacht.
»Kann ich mitkommen?«, fragte er mit rauer Stimme.
Sie blinzelte überrascht. Ihre Antwort ließ lange auf sich warten. »Wenn du willst.«
Er ging mit ihr hinaus in einen kleinen eingezäunten Garten, in dem weiße und gelbe Narzissen blühten. Gegen die grelle Sonne anblinzelnd, spazierten sie einen gekiesten Weg entlang.
Catherine warf ihm einen unergründlichen Blick zu, ihre Augen leuchteten im Tageslicht opalblau. »Ich kenne dich überhaupt nicht, Harry.«
»Du kennst mich wahrscheinlich genauso gut wie alle anderen«, erwiderte Harry. »Außer Poppy, natürlich.«
»Nein«, sagte sie ernst. »So wie du diese Woche gewesen bist … das hätte ich nie von dir erwartet. Diese Zuneigung, die du ganz offensichtlich zu Poppy empfindest … ich finde das ziemlich erstaunlich.«
»Sie ist nicht gespielt«, versicherte er.
»Ich weiß. Ich kann sehen, dass du aufrichtig bist. Es ist nur so, dass du vor der Hochzeit gesagt hast, es sei dir egal, ob Poppys Herz Mr Bayning gehöre, solange …«
»Solange ich den Rest von ihr bekomme«, sagte er und lächelte zynisch, voller Selbstverachtung. »Ich war ein arrogantes Schwein. Tut mir leid, Cat.« Er machte eine Pause. »Ich verstehe jetzt, warum du dich so verantwortlich fühlst, Poppy und Beatrix zu beschützen. Und die anderen. Sie sind für dich das, was einer eigenen Familie am Nächsten kommt. Wo du selbst nie eine hattest.«
»Du auch nicht.«
Ein unbehagliches Schweigen erfüllte den Raum zwischen ihnen, bis Harry schließlich zugab: »Ich auch nicht.«
An einer Bank machten sie halt, und Catherine setzte sich. »Komm, setz dich«, bat sie ihn und deutete auf den freien Platz neben sich.
Er gehorchte und ließ sich auf die Bank nieder, nach vorn gebeugt saß er da, die Ellbogen auf die Knie gestützt.
Sie schwiegen und waren doch auf eine sonderbare Weise gesellig. Beide wünschten sich ein Gefühl von Gemeinsamkeit, von Verwandtschaft, ohne recht zu wissen, wie sie es erlangen konnten.
Harry beschloss, es mit Ehrlichkeit zu versuchen. Er holte tief Luft und sagte mit heiserer Stimme: »Ich bin nie freundlich zu dir gewesen, Cat. Vor allem dann nicht, als du es so dringend gebraucht hättest.«
»Das würde ich bestreiten«, überraschte sie ihn. »Du hast mich aus einer sehr unangenehmen Situation gerettet, und du hast mir die Mittel gegeben, um ganz gut leben zu können, ohne eine Anstellung finden zu müssen. Und du hast nie eine Gegenleistung verlangt.«
»Das war ich dir mindestens schuldig.« Er starrte sie an, nahm das goldene Glitzern ihres Haars in sich auf, das schmale, längliche Gesicht und die Haut, die so fein war wie Porzellan. Eine kleine Falte erschien
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