Zärtlicher Nachtwind - Kleypas, L: Zärtlicher Nachtwind - Tempt me at Twilight
zwischen seinen Brauen. Als er sich seines Starrens bewusstwurde, kratzte er sich verlegen im Nacken. »Du siehst so verdammt aus wie unsere Mutter.«
»Tut mir leid«, flüsterte Catherine.
»Nein, es braucht dir nicht leidzutun. Du bist wunderschön, so wie sie. Noch schöner sogar. Aber manchmal ist es schwer, die Ähnlichkeit zu sehen und nicht daran zu denken …« Er seufzte angespannt. »Als ich von deiner Existenz erfuhr, beneidete ich dich darum, so viel mehr Jahre mit ihr gehabt zu haben als ich. Erst später begriff ich, dass ich der Glücklichere von uns beiden war.«
Ein bitteres Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ich glaube, wir stehen beide nicht unter Verdacht, besonders viel Glück im Leben gehabt zu haben, Harry.«
Er antwortete mit einem trockenen Lachen.
Sie saßen noch eine Weile, reglos und schweigend, beieinander, aber ohne sich zu berühren. Beide waren ohne die Erfahrung aufgewachsen, was es heißt, Liebe zu geben oder zu empfangen. Das Leben hatte ihnen Lektionen erteilt, die sie erst mühsam wieder vergessen mussten. Manchmal aber war das Leben auch überraschend großzügig, sann Harry nach. Poppy war der beste Beweis dafür…
»Die Hathaways waren ein echter Glückstreffer für mich«, sagte Catherine, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Sie nahm ihre Brille von der Nase und putzte sie mit dem Saum ihres Ärmels. »Diese letzten drei Jahre mit ihnen … haben mir Hoffnung gegeben. Es war für mich eine Zeit der Heilung.«
»Das freut mich für dich«, sagte Harry sanft. »Du hast es verdient, und noch viel mehr.« Er machte eine Pause, suchte nach Worten. »Cat, ich muss dich etwas fragen …«
»Ja?«
»Poppy möchte mehr über meine Vergangenheit wissen. Was kann ich ihr über den Teil sagen, als ich dich gefunden habe, falls ich ihr überhaupt etwas darüber sagen darf?«
Catherine setzte ihre Brille wieder auf und starrte in ein nahe gelegenes Narzissenfeld. »Erzähl ihr alles«, meinte sie schließlich. »Sie kann mit meinen Geheimnissen betraut werden. So wie mit deinen.«
Harry nickte, erstaunt über eine Bemerkung, von der er niemals geglaubt hätte, dass sie sie jemals machen würde. »Und es gibt noch etwas, um das ich dich bitten möchte. Einen Gefallen. Ich verstehe die Gründe, warum wir uns in der Öffentlichkeit nicht zu erkennen geben dürfen. Aber unter vier Augen hoffe ich von jetzt an die Ehre zu haben, dich … nun ja, wie dein Bruder behandeln zu dürfen.«
Sie sah ihn mit großen Augen an, zu erstaunt, um etwas zu sagen.
»Wir müssen dem Rest der Familie nichts sagen, bis du bereit dazu bist«, erklärte Harry. »Aber ich würde unsere Verwandtschaft nicht gerne verstecken, wenn wir unter uns sind. Du bist meine einzige Familie.«
Catherine fuhr mit dem Finger unter ihre Brille, um sich eine Träne aus dem Auge zu wischen.
Ein Gefühl von Mitleid und Zärtlichkeit übermannte ihn, etwas, das er noch nie für sie gefühlt hatte. Er streckte die Hand nach ihr aus und zog sie zu sich heran. Dann küsste er sie vorsichtig auf die Stirn. »Lass mich dein großer Bruder sein«, flüsterte er.
Sie blickte ihm erstaunt nach, als er zum Haus zurückging.
Ein paar Minuten blieb Catherine noch auf der Bank sitzen und lauschte dem Summen einer Biene, den schrillen Schreien der Mauersegler und dem sanfteren, melodischeren Zwitschern der Feldlerchen. Sie wunderte sich über die Verwandlung, die mit Harry vorgegangen war. Halb fürchtete sie sich, er könnte ein übles Spiel mit ihr treiben, mit ihnen allen, aber … es musste echt sein. Die Ergriffenheit in seinem Gesicht, die Aufrichtigkeit in seinen Augen, es war unbestreitbar. Aber wie war es möglich, dass sich jemandes Charakter so plötzlich veränderte?
Vielleicht, grübelte sie, war es gar nicht so, dass Harry sich verändert hatte, vielleicht wurde er vielmehr enthüllt … legte Schichten um Schichten seines aufgebauten Schutzpanzers ab. Vielleicht wurde Harry jetzt – oder mit der Zeit – der Mann, als der er eigentlich gedacht war. Weil er endlich jemanden gefunden hatte, der ihm etwas bedeutete.
Vierundzwanzigstes Kapitel
Die Postkutsche war in Stony Cross eingetroffen, und ein Diener war entsandt worden, um einen Stapel Briefe und Pakete abzuholen, die an Ramsay House adressiert waren. Der Diener brachte die Post zur Rückseite des Hauses, wo Win und Poppy es sich auf Sitzmöbeln bequem gemacht hatten, die man aus dem Haus auf die mit Ziegeln gepflasterte Terrasse gebracht hatte. Das
Weitere Kostenlose Bücher