Zärtlicher Nachtwind - Kleypas, L: Zärtlicher Nachtwind - Tempt me at Twilight
erschöpft. Harry hatte ein paar harte Schläge auf die Brust und den Oberarm hinnehmen müssen, er war in Schweiß gebadet und freute sich auf eine Dusche.
Er betrat das Hotel in seiner weißen Fechtbekleidung, lediglich die schützende Lederweste hatte er abgenommen. Binnen weniger Sekunden war klar, die Dusche würde warten müssen.
Einer seiner Manager, ein bebrillter junger Mann namens William Cullip, empfing ihn am Hintereingang des Hotels. Cullips Gesicht war von Sorge gezeichnet. »Mr Rutledge«, begann er zaghaft, »Mr Valentine wies mich an, Sie unverzüglich nach Ihrer Rückkehr davon zu unterrichten, dass es … nun ja … Unannehmlichkeiten gibt …«
Harry starrte ihn schweigend an und zwang sich zur Geduld. Man durfte Cullip nicht drängen, sonst bekam er überhaupt nichts mehr heraus.
»Es betrifft die Diplomaten aus Nagaradscha«, fuhr der Manager fort.
»Noch ein Feuer?«
»Nein, Sir. Es geht um eines der Geschenke, mit dem sie morgen der Königin ihre Ehre bezeugen wollten. Es ist verschwunden.«
Harry hob die Augenbrauen. Er dachte an die Sammlung unschätzbarer Edelsteine, an die wertvollen Gemälde und die edlen Stoffe, die die Diplomaten mitgebracht hatten. »Ihre Wertstücke lagern in einem verschlossenen Raum im Kellergeschoss. Wie sollte dort etwas verlorengehen?«
Cullip stieß einen tiefen Seufzer aus. »Nun, Sir, es scheint, als hätte es sich eigenständig davongemacht.«
Harry runzelte die Stirn. »Was zum Teufel ist los, Cullip?«
»Unter den Kostbarkeiten, die die Diplomaten für die Königin mitgebracht haben, befinden sich ein paar seltene Tiere … blaue Makaken … die nur in den Teakbaumwäldern Nagaradschas vorkommen. Sie sollen im Zoologischen Garten in Regent’s Park ein neues Zuhause finden. Offensichtlich hatten sie die Makaken getrennt voneinander in Kisten eingesperrt, und auf irgendeine Weise hat es einer der beiden geschafft, das Schloss zu knacken …«
»Ist das Ihr Ernst?« Die Ungläubigkeit wich rasch einer großen Empörung. Dennoch gelang es Harry, einen ruhigen Ton zu bewahren. »Darf ich fragen, warum es niemand für nötig befunden hat, mich zu informieren, dass wir in meinem Hotel zwei Affen beherbergen?«
»Genau in diesem Punkt scheint ein Missverständnis vorzuliegen, Sir. Es ist nämlich so, dass Mr Lufton am Empfang felsenfest behauptet, den Umstand in seinen Bericht aufgenommen zu haben. Mr Valentine aber sagt, er habe dergleichen nie gelesen. Er verlor die Fassung und versetzte ein Hausmädchen und zwei Oberkellner in Angst und Schrecken, und nun sind alle auf der Suche nach dem Tier, während man sich zugleich bemüht, die Aufmerksamkeit der Gäste nicht zu erregen …«
»Cullip.« Harry biss die Zähne zusammen und zwang sich, ruhig zu bleiben. »Wie lange ist dieser Makak schon verschwunden?«
»Wir schätzen, seit mindestens fünfundvierzig Minuten.«
»Wo ist Valentine?«
»Als ich ihn zuletzt sah, war er auf dem Weg in den dritten Stock. Eines der Hausmädchen hatte in der Nähe des Speisenaufzugs etwas entdeckt, das sie für tierischen Kot hielt.«
»Affenkot am Speisenaufzug«, wiederholte Harry. Gütiger Gott! Er traute seinen Ohren nicht. Es fehlte nur noch, dass sich einer seiner älteren Gäste beim Anblick des Tiers zu Tode erschrak und einen Schlaganfall erlitt oder eine Frau oder ein Kind gebissen wurde, oder eine wie auch immer geartete Katastrophe eintrat.
Es würde unmöglich sein, das verdammte Tier zu finden. Das Hotel war mit seinen unzähligen Fluren und versteckten Türen und Gängen praktisch ein Labyrinth. Ganze Tage konnten vergehen, an denen das Rutledge Hotel in heller Aufregung sein würde. Sein Geschäft würde leiden. Und was am schlimmsten war: Er würde jahrelang eine Zielscheibe des Spottes sein. Und wenn die Spaßvögel mit ihm fertig waren …
»Bei Gott, es werden Köpfe rollen«, sagte Harry mit so vernichtender Sanftheit, dass Cullip zusammenfuhr. »Gehen Sie in meine Gemächer, Cullip, und bringen Sie mir die Dreyse aus dem Mahagonischrank in meinem Büro.«
Der junge Manager blickte verwirrt drein. »Die Dreyse, Sir?«
»Ein Gewehr. Es ist der einzige Zündnadel-Hinterlader im Schrank.«
»Ein Zündnadel … was?«
»Die braune Waffe«, erklärte Harry in sanftem Ton. »Die mit dem großen Bolzen an der Seite.«
»Jawohl, Sir!«
»Und in Gottes Namen, zielen Sie auf niemanden. Sie ist geladen.«
Das Florett noch immer fest in der Hand, stürmte Harry, zwei Stufen auf einmal nehmend,
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