Zärtlicher Nachtwind - Kleypas, L: Zärtlicher Nachtwind - Tempt me at Twilight
Nachmittag lang werde ich es wohl aushalten«, versicherte Cam. Gedankenverloren spielte er mit einer losen Haarlocke, die Amelia in den Nacken gefallen war. »Ich denke, die Anstrengung lohnt sich, wenn wir dafür einen wie Bayning in unseren Kreis aufnehmen dürfen.« Und lächelnd fügte er hinzu: »Schließlich brauchen wir wenigstens einen ehrbaren Mann in der Familie, oder?«
Fünftes Kapitel
Gleich am nächsten Morgen wurde an Michael Bayning eine Einladung gesandt, und zu Poppys großer Freude wurde sie umgehend angenommen. »Jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit«, erzählte sie ihrer Schwester Beatrix. Sie konnte ihre Aufregung nicht verbergen, und beinahe wäre sie wie Dodger im Zimmer umhergehüpft. »Bald werde ich Mrs Michael Bayning sein, und ich liebe ihn, ich liebe euch alle und alles … Ich liebe sogar dein stinkendes altes Frettchen, Bea!«
Am späten Vormittag kleideten sich Poppy und Beatrix für einen Spaziergang. Der Tag war heiter und warm und die Gartenanlage des Hotels eine einzige Blütenpracht, unterbrochen lediglich von sorgfältig gekiesten Spazierwegen.
»Ich kann es kaum erwarten, draußen zu sein«, sagte Poppy, die am Fenster stand und auf den weitläufigen Park hinunterblickte. »Es erinnert mich so sehr an Hampshire, die Blumen sind wunderschön.«
»Mich erinnert das überhaupt nicht an Hampshire« erklärte Beatrix. »Es ist viel zu ordentlich. Aber ich mag es, durch den Rosengarten zu schlendern. Alles duftet so lieblich. Weißt du, vor ein paar Tagen, als ich mit Cam und Amelia draußen war, habe ich mit dem Gärtnermeister gesprochen, und er hat mir sein Geheimrezept verraten, wie die Rosen so groß und schön werden.«
»Wie lautet es?«
»Fischbrühe, Essig und eine Prise Zucker. Er besprengt sie damit kurz vor der Blütezeit. Und sie lieben es.«
Poppy rümpfte die Nase. »Ein entsetzliches Gebräu!«
»Der Gärtnermeister sagte, der alte Mr Rutledge habe eine besondere Vorliebe für Rosen, und mancher Gast habe ihm seltene Exemplare exotischer Sorten mitgebracht, die man im Garten bewundern kann. Die Lavendelrosen zum Beispiel stammen aus China, und die Sorte Maiden’s Blush kommt aus Frankreich, und …«
»Der alte Mr Rutledge?«
»Na ja, tatsächlich hat er nicht gesagt, Mr Rutledge sei alt. Ich kann ihn mir aber einfach nicht anders vorstellen.«
»Warum?«
»Na ja, er ist so schrecklich mysteriös, er lässt sich nie blicken, keiner von den Gästen hier hat ihn je gesehen. Das Ganze erinnert mich an die Geschichten vom verrückten alten King George, der in Schloss Windsor in völliger Abgeschlossenheit dahinvegetierte.« Bea-trix grinste. »Vielleicht wird Mr Rutledge oben auf dem Dachboden gehalten.«
»Bea«, flüsterte Poppy eindringlich. Sie verspürte einen überwältigenden Drang, sich ihr anzuvertrauen. »Ich möchte dir etwas erzählen, aber es muss ein Geheimnis bleiben.«
Beas Augen blitzten neugierig auf. »Worum geht es?«
»Versprich mir erst, dass du es niemandem erzählen wirst.«
»Ich verspreche es.«
»Du musst schwören.«
»Ich schwöre beim heiligen Franziskus, dem Schutzpatron aller Tiere.« Als sie merkte, dass Poppy zögerte, fügte Beatrix theatralisch hinzu: »Wenn mich eine Piratenbande entführen, auf ihr Schiff mitnehmen und mir androhen würde, mich ausgehungerten Haien zum Fraß vorzuwerfen, selbst dann würde ich es nicht erzählen. Und wenn mich ein Bösewicht fesseln und vor eine Herde mit Eisen beschlagener trampelnder Pferde werfen würde, und die einzige Möglichkeit zu entkommen darin bestünde, dein Geheimnis zu erzählen, selbst dann …«
»Schon gut, du hast mich überzeugt«, sagte Poppy mit einem Grinsen. Sie zog ihre Schwester in eine Ecke und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: »Ich habe Mr Rutledge kennengelernt.«
Beatrix blaue Augen wurden riesengroß. »Wirklich? Wann?«
»Gestern in der Früh.« Und Poppy erzählte ihr die ganze Geschichte, beschrieb ihr in allen Einzelheiten den dunklen Gang, die Raritätenkammer und Mr Rutledge selbst. Nur den Kuss ließ sie aus, der, zumindest in ihrer Version, niemals stattgefunden hatte.
»Es tut mir so schrecklich leid wegen Dodger«, sagte Beatrix ernsthaft. »Ich muss mich für ihn entschuldigen.«
»Ist schon gut, Bea. Ich wünschte nur, er hätte den Brief nicht verloren. Aber … solange ihn niemand findet, ist wohl alles in Ordnung.«
»Dann ist Mr Rutledge also kein klappriger Verrückter?«, erkundigte sich Beatrix enttäuscht.
»Um Gottes
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