Zärtlicher Nachtwind - Kleypas, L: Zärtlicher Nachtwind - Tempt me at Twilight
willen, nein.«
»Wie sieht er denn aus?«
»Ziemlich gut sogar. Er ist sehr groß und …«
»So groß wie Merripen?«
Kev Merripen lebte bei den Hathaways, seit sein Stamm von Engländern angegriffen worden war, die die Zigeuner aus ihrem Land vertreiben wollten. Der Junge war seinem Schicksal überlassen worden. Die Hathaways aber hatten ihn aufgenommen, und er war für immer geblieben. Erst kürzlich hatte er die zweitälteste Schwester Winnifred geheiratet. Merripen hatte die gewaltige Aufgabe übernommen, das Ramsay-Anwesen in Leos Abwesenheit zu führen. Die Neuvermählten waren beide ganz glücklich, während der Saison in Hampshire zu bleiben und die Schönheit und Ruhe von Ramsay House zu genießen.
»Niemand ist so groß wie Merripen«, antwortete Poppy. »Aber Mr Rutledge ist ebenfalls groß, und er hat dunkles Haar und durchdringende grüne Augen …« Sie verspürte ein unerwartetes flaues Gefühl in der Magengegend, als sie an die Begegnung mit ihm dachte.
»Hat er dir gefallen?«
Poppy zögerte. »Mr Rutledge ist … irgendwie … beunruhigend. Er ist charmant, aber man wird das Gefühl nicht los, dass er zu fast allem fähig ist. Er ist wie einer von den bösen Engeln aus einem Gedicht von William Blake.«
»Ich wünschte, ich hätte ihn gesehen«, sagte Beatrix wehmütig. »Und noch lieber würde ich diese Kuriositätenkammer besuchen. Ich beneide dich, Poppy. Es ist so lange her, dass mir etwas Aufregendes passiert ist.«
Poppy lachte leise. »Und was ist mit der Saison, die wir fast gänzlich mitgemacht haben?«
Beatrix verdrehte die Augen. »Die Saison in London ist so aufregend wie ein Schneckenrennen. Im Januar. Mit toten Schnecken.«
»Meine Damen, ich bin so weit«, lautete Miss Marks’ heitere Aufforderung, mit der sie den Raum betrat. »Sehen Sie zu, dass Sie Ihre Sonnenschirme nicht vergessen – Sie wollen doch schließlich keine Bräune im Gesicht.« Die drei verließen die Suite und schritten in würdevollem Tempo den Flur entlang. Bevor sie um die Ecke bogen, um zur Haupttreppe zu gelangen, wurden sie auf einen ungewöhnlichen Tumult aufmerksam.
Männerstimmen riefen durcheinander, teilweise aufgeregt, zumindest eine von ihnen wütend, und verschiedene ausländische Akzente waren zu hören, sowie ein dumpfes Klopfen und ein sonderbares metallisches Rasseln.
»Was zum Teufel …«, entfuhr es Miss Marks leise.
Als die drei Frauen um die Ecke bogen, blieben sie wie vom Donner gerührt stehen. Ein halbes Dutzend Männer drängte sich vor dem Speisenaufzug. Ein schriller Schrei zerriss die Luft.
»Ist das eine Frau?«, fragte Poppy und erbleichte. »Ein Kind?«
»Bleiben Sie hier«, rief Miss Marks nervös. »Ich werde es herausfinden …«
Mehrere angsterfüllte Schreie ließen die drei Frauen zusammenzucken.
»Es ist ein Kind«, sagte Poppy und lief nach vorn, ohne Miss Marks’ Anweisung zu beachten. »Wir müssen etwas tun! Wir müssen ihm helfen!«
Beatrix war bereits vorgelaufen. »Kein Kind«, rief sie über die Schulter. »Ein Affe!«
Sechstes Kapitel
Es gab nur wenige Tätigkeiten, die Harry so sehr schätzte wie das Fechten, umso mehr als diese Kunst im wirklichen Leben längst keine Anwendung mehr fand. Schwerter waren als Waffen oder Modeaccessoires überflüssig geworden, so dass nur noch Offiziere und eine Handvoll begeisterte Amateure Gebrauch von ihnen machten. Harry aber mochte die Eleganz, die Präzision, die sowohl körperliche als auch geistige Disziplin erforderte. Ein Fechter musste mehrere Schritte im Voraus planen, eine Fähigkeit, die Harry im Blut lag.
Ein Jahr zuvor war er einem Fechtclub beigetreten, der aus etwa einhundert Mitgliedern bestand, vornehmlich Adligen, Bankiers, Schauspielern, Politikern und Vertretern unterschiedlicher militärischer Ränge. Dreimal wöchentlich traf sich Harry mit ein paar zuverlässigen Freunden im Club, um sich unter dem wachsamen Auge eines Fechtlehrers an Floretten und Stangenwaffen zu üben. Der Club verfügte zwar über einen Umkleideraum und Duschbäder, doch aufgrund der oftmals langen Schlange zog Harry es vor, direkt aus dem Übungsraum ins Hotel zurückzukehren.
An diesem Morgen war das Training besonders hart gewesen. Der Fechtlehrer hatte ihnen eine besondere Kampftechnik beigebracht, die es ihnen erlaubte, es mit zwei Gegnern auf einmal aufzunehmen. So erfrischend das Training auch gewesen war, die Herausforderung hatte ihnen allen blaue Flecken beschert, und sie fühlten sich müde und
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