Zärtlicher Nachtwind - Kleypas, L: Zärtlicher Nachtwind - Tempt me at Twilight
Und letztlich würden sich all sein Groll und seine Bitterkeit gegen Poppy richten.
Sie musste Michael fortschicken – es war das Beste, was sie für ihn tun konnte.
Und was ihre eigenen Interessen anging … so waren alle Alternativen gleichermaßen schrecklich.
»Ich schlage vor, du verabschiedest dich gleich von beiden Idioten«, warf Leo ein, »und ich bringe dich heim nach Hampshire.«
Poppy starrte ihren Bruder an, und um ihre Lippen spielte ein mutloses Lächeln. »Was für ein Leben hätte ich nach alledem noch in Hampshire, Leo?«
Seine einzige Antwort war grimmiges Schweigen. Poppy wandte sich zu Miss Marks um, die ihr einen gequälten Blick zuwarf. Poppy sah, dass die Gesellschafterin ihre prekäre Lage besser begriff als alle anwesenden Männer. Frauen wurden in allen Dingen sehr viel strenger bewertet und härter verurteilt als Männer. Poppys flüchtiger Traum von einem einfachen, friedlichen Leben war ohnehin schon vorbei. Wenn sie diese Hochzeit nicht durchzog, würde sie nie heiraten, nie Kinder haben und nie mehr einen Platz in der Gesellschaft einnehmen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als das Beste aus ihrer Situation zu machen.
Sie blickte Michael mit unnachgiebiger Miene an. »Du musst gehen«, sagte sie.
Sein Gesicht verzerrte sich vor Kummer und Verzweiflung. »Poppy, ich habe dich doch nicht verloren. Du willst doch nicht sagen …«
»Geh«, sagte sie mit unbeirrbarer Entschlossenheit. Sie blickte zu ihrem Bruder. »Leo, bitte begleite Miss Marks zu ihrem Platz. Die Zeremonie wird bald beginnen. Und ich muss mit Mr Rutledge unter vier Augen sprechen.«
Michael starrte sie ungläubig an. »Poppy, ich kann nicht zulassen, dass du ihn heiratest. Hör mir zu …«
»Bayning, es ist vorbei«, sagte Leo ruhig. »Sie können Ihren Teil, den Sie zu diesem verdammten Schlamassel beigetragen haben, nicht mehr rückgängig machen. Lassen Sie meine Schwester damit umgehen, wie sie es für richtig hält.«
»Gütiger Gott!« Michael schwankte zur Tür wie ein Betrunkener.
Poppy verspürte den Drang, ihn zu trösten, ihm nachzulaufen und ihm ihre Liebe zu beteuern. Stattdessen blieb sie mit Harry Rutledge in der Sakristei zurück.
Ihr kam es wie eine Ewigkeit vor, bis die drei endlich gegangen waren. Poppy und Harry standen sich gegenüber und sahen sich an.
Ihm war es ganz offensichtlich egal, dass sie nun wusste, wer er eigentlich war. Harry wollte weder Vergebung noch Wiedergutmachung … er bereute nichts.
Ein ganzes Leben , dachte Poppy. Mit einem Mann, dem ich niemals vertrauen kann.
Einen Bösewicht heiraten, oder niemals heiraten. Harry Rutledges Frau werden, oder als ein Objekt der Ungnade leben. Sie würde erleben, wie Mütter ihre Kinder ausschimpfen, nur weil sie mit ihr gesprochen haben, als ob ihre Unschuld allein durch Poppys Gegenwart beeinträchtigt würde. Sie würde eindeutige Angebote von Männern bekommen, die glaubten, dass sie unmoralisch oder bedürftig sei. Dieses Schicksal erwartete sie, würde sie nicht Harry Rutledges Frau werden.
»Und nun?«, erkundigte sich Harry ruhig. »Werden wir die Sache zu Ende bringen oder nicht?«
Poppy kam sich töricht vor, wie sie dort stand, in ihrer prachtvollen Brautkleidung, mit Blumen und Schleier geschmückt, Symbole der Hoffnung und Unschuld, obwohl so gar nichts mehr davon übrig war. Sie war versucht, sich ihren Verlobungsring vom Finger zu reißen und ihn ihm vor die Füße zu werfen. Sie wollte zusammenbrechen und auf dem Boden liegen wie ein Hut, auf den jemanden getreten war. Kurz kam ihr der Gedanke, nach Amelia schicken zu lassen, die sich der Sache annehmen und alles regeln würde.
Nur war sie leider kein kleines Mädchen mehr, deren Leben sich einfach regeln ließ.
Sie starrte in Harrys unerbittliches Gesicht und in seine kalten Augen. Sein Blick war voll des Hohns und der ungetrübten Zuversicht, gewonnen zu haben. Zweifellos nahm er an, dass er sie für den Rest des Lebens in ihre Schranken weisen konnte.
Sie hatte ihn unterschätzt, so viel war sicher.
Aber er unterschätzte sie ebenfalls.
Poppys Kummer und Elend und verzweifelte Wut verschmolzen plötzlich zu einer harten, unnachgiebigen Legierung. Sie war selbst überrascht von der Ruhe in ihrer Stimme, als sie zu ihm sprach. »Ich werde nie vergessen, dass du mir den Mann genommen hast, den ich liebte, um dich selbst an seine Stelle zu setzen. Ich bin nicht sicher, ob ich dir das jemals verzeihen kann. Eines aber kann ich dir mit Sicherheit sagen:
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