Zärtlicher Nachtwind - Kleypas, L: Zärtlicher Nachtwind - Tempt me at Twilight
ausprobiert.«
»Du bist über eine Außenleiter hinuntergeklettert?« Poppy war verblüfft, dass er sich einer so unnötigen Gefahr ausgesetzt hatte. »Hättest du nicht jemand anderen damit beauftragen können? Mr Valentine zum Beispiel?«
»Ich bin sicher, er hätte nicht gezögert. Allerdings prüfe ich die Ausrüstung, die ich meinen Angestellten zur Verfügung stelle, vorher lieber selbst. Sorge bereiten mir nur die Hausmädchen. Die Röcke könnten ihnen den Abstieg erheblich erschweren. Das allerdings werde ich nun doch nicht ausprobieren.« Er blickte reumütig auf seine Hände. »Ich muss mich waschen und umziehen, bevor ich zur Arbeit zurückkehre.«
Poppy widmete sich wieder ihrem Buch. Aber ihr entging nicht ein Laut, der aus dem angrenzenden Zimmer kam. Schubladen wurden aufgezogen, der Wasserhahn aufgedreht, Schuhe plumpsten auf den Boden. Bei dem Gedanken, dass er gerade nackt war, wurde ihr warm in der Magengegend.
Harry kehrte in den Salon zurück, sauber und tadellos wie zuvor. Nur …
»Ein Fleck«, sagte Poppy und wurde sich ihrer freudigen Erregung bewusst. »Du hast einen Fleck übersehen.«
Harry blickte an sich herunter. »Wo?«
»An der Wange. Nein, die andere.« Sie nahm eine Serviette und bedeutete ihm, näher zu kommen.
Harry beugte sich über die Rückenlehne des Sofas und streckte ihr das Gesicht hin. Er hielt still, als sie ihm den Ruß von der Wange wischte. Sie konnte seine Haut riechen, frisch und sauber, mit einer Spur von Zedernholz.
Poppy hätte den Augenblick am liebsten hinausgezögert. Sie starrte in seine unergründlichen Augen. Der Schlafmangel hatte dunkle Schatten unter den Augen hinterlassen. Du lieber Himmel! Gönnte sich der Mann jemals eine Pause?
»Warum setzt du dich nicht ein wenig zu mir«, fragte sie, einem plötzlichen Impuls folgend.
Harry blinzelte, ihre Einladung traf ihn sichtlich unvorbereitet. »Jetzt?«
»Ja, jetzt.«
»Ich kann nicht. Es gibt zu viel zu …«
»Hast du heute schon etwas gegessen? Außer den paar Bissen zum Frühstück?«
Harry schüttelte den Kopf. »Keine Zeit gehabt.«
Poppy klopfte auffordernd auf den Platz neben sich.
Zu ihrer Überraschung gehorchte Harry sofort. Er ging um das Sofa herum, setzte sich in die gegenüberliegende Ecke und starrte sie an. Eine seiner dunklen Brauen hatte er fragend gehoben.
Poppy griff nach dem Tablett neben sich und hob einen Teller mit allerlei belegten Broten, Törtchen und Keksen hoch. »Das ist viel zu viel für eine Person. Nimm du den Rest.«
»Ich bin wirklich nicht …«
»Hier«, beharrte sie und drückte ihm den Teller in die Hände.
Harry nahm sich ein belegtes Brot und begann langsam zu kauen. Poppy goss frischen Tee in ihre Tasse, fügte einen Löffel Zucker hinzu und reichte sie ihm.
»Was liest du gerade?«, erkundigte er sich mit einem Blick auf das Buch in ihrem Schoß.
»Einen Roman von einem naturalistischen Autor. Bislang kann ich nicht die Spur einer Handlung erkennen, aber die Landschaftsbeschreibungen sind recht stimmungsvoll.« Sie hielt inne und sah ihm dabei zu, wie er die Tasse austrank. »Liest du auch gern Romane?«
Er schüttelte den Kopf. »Eigentlich lese ich nur, um mich zu informieren, nicht zur Unterhaltung.«
»Lehnst du es ab, zum Vergnügen zu lesen?«
»Nein, ich komme nur nicht so oft dazu.«
»Vielleicht kannst du deshalb nicht gut schlafen. Du bräuchtest etwas zwischen Arbeit und Zubettgehen. Ein Zwischenspiel, das dich auf andere Gedanken bringt.«
Nach einer nüchternen, zeitlich genau bemessenen Pause fragte Harry: »Was schwebt dir denn vor?«
Poppy wurde bewusst, worauf er anspielte, und spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Harry schien ihre Verlegenheit zu genießen, aber nicht aus Spott, sondern weil er sie bezaubernd fand.
»In meiner Familie lesen alle gern«, sagte Poppy schließlich und lenkte die Konversation wieder in unverfängliche Bahnen. »Fast jeden Abend saßen wir gemeinsam im Salon und lasen uns gegenseitig etwas vor. Win war am besten darin – sie erfand für jede Figur eine andere Stimme.«
»Ich würde dich gerne lesen hören«, erklärte Harry.
Poppy schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht halb so unterhaltsam wie Win. Bei mir schlafen alle ein.«
»Ja«, sagte Harry. »Du hast die Stimme einer Gelehrtentochter.« Und bevor sie es ihm übelnehmen konnte, fügte er hinzu: »Besänftigend. Wohltuend. Ohne Kratzen …«
Er war unendlich müde, kam es ihr in den Sinn. So müde, dass es ihm kaum
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