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Zärtlichkeit des Lebens

Zärtlichkeit des Lebens

Titel: Zärtlichkeit des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
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anschaulich machen können, vergaß sie ihn. Das Delacroix-Kulturzentrum beanspruchte ihr ungeteiltes Interesse.
    Vor ihrem inneren Auge konnte Sarah bereits das fertige Theater sehen; ein niedriges, schwungvolles Gebäude, das auf der Ostseite verglast war. Die Halle würde einen Innenhof mit Gartenanlage beherbergen. Sie stellte sich die geometrischen Dimensionen vor; die breite Westseite hatte keine Fensteröffnungen in den Betonwänden; die Hauptbühne mit ihren ausladenden Baikonen auf ansteigenden Ebenen, der Schwung einer Treppe, die langen Flure. Wenn sie nur endlich anfangen könnte.
    Um ihre Ungeduld bis zum Baubeginn im Zaum zu halten, verbrachte Sarah abends viel Zeit damit, den genehmigten Entwurf zu perfektionieren und zu verfeinern. Sie brütete über der Statik und sorgte sich über die Lieferzeiten für das Material.
    Zudem ärgerte sie sich über den Aufwand an Formularen, Genehmigungen und Vertragsverfahren. Routineabläufe gab es in jedem Land, stellte sie seufzend fest und wie immer frustrierte sie das.
    Das Licht, das durch das Fenster auf Sarahs Rücken fiel, hatte die Farbe gewechselt. In ihrem Büro wurde es zunehmend düsterer. Sarah hatte seit einer halben Stunde die ganze Etage für sich, aber sie blieb noch immer. Auf ihrem Block skizzierte sie verschiedene Ideen für die Raumgestaltung einer der kleineren Bühnen. Sie wollte etwas Einfaches, Intimes als Gegensatz zu der prachtvollen Eleganz der Hauptbühne. Theater bedeutete Prunk und Federn, aber auch schwarze Gymnastikhosen und bloße Füße. Die Zuschauer sollten die Theaterschminke riechen können.
    Beim Zeichnen ließ sie ihre Gedanken schweifen. Das Kinn auf die Faust gestützt, starrte sie ins Leere.
    Zuerst New York, sinnierte sie, und jetzt Europa. Wer hätte vor einem Jahr gedacht, daß sich soviel in meinem Leben ändern würde? Sie dachte an die Abschiedsparty, die Dallas ihr zu Ehren am Abend vor ihrer Abreise nach Paris gegeben hatte, erinnerte sich an Lachen und typisch amerikanische Stimmen, an den Geruch amerikanischer Zigaretten, an Budweiser-Dosen und uralte Beatles-Platten.
    In der Wohnung hatten sich die Leute gedrängt, die meisten von ihnen leicht angesäuselt, und eine alte Flash-Gordon-Sendung war lautlos über den Bildschirm geflimmert.
    Wehmütig und mit unerwartetem Heimweh dachte Sarah an diese Szene. Erst seit sie im Ausland lebte, hatte sie erkannt, wie durch und durch amerikanisch sie war. Und wie sie Byron Lloyd vor Monaten erzählt hatte, gewöhnte sie sich anderswo nicht so leicht ein.
    Im Verlauf des ersten Monats hatte Sarah sich anpassen müssen, nicht nur an eine andere Kultur, sondern auch daran, daß sie neue Verantwortung tragen mußte. Bisher hatten sich zuerst Boumell und dann Cassidy um die Geschäftsangelegenheiten gekümmert; um die Besprechungen, die Berichte, die strategischen Schachzüge. Ihre Delegationsbefugnis war äußerst gering gewesen. Jetzt mußte Sarah schnell lernen, oder sie ging unter. Sie war die Neue im Equipment, aber zudem eine Ausländerin und deshalb doppelt suspekt. Ständig stand sie unter dem Druck, sich beweisen zu müssen. Sie lernte, mit Bankern umzugehen, mit Einkaufsbevollmächtigten, mit Laien, die nichts vom Bau verstanden, aber die Kontrolle über ihre Francs behalten wollten. Sie fing an, diplomatisches Geschick zu entwickeln, das ihr früher gleichgültig gewesen war. Was sie zu tun hatte, gefiel ihr nicht immer. Aber sie lernte die Spielregeln.
    Allein in ihrem Pariser Büro fühlte sich Sarah einsam und entwurzelt.
    »Verdammt, Sarah, jetzt hör mal wieder auf damit.« Sie warf den Bleistift hin, sprang auf und ging ans Fenster.
    Ich lebe in einer der schönsten Städte der Welt, sann sie nach, während sie das Hereinbrechen der Dunkelheit verfolgte. Ich habe ein freies Wochenende vor mir, und ich stehe hier und bedauere mich selbst, anstatt Pläne zu schmieden. Denk mal an die Bauwerke. Denk an die unglaubliche, traditionsbeladene Architektur überall um dich herum. Denk an die Museen, an die Kunst. Ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe lächelte sie matt an.
    »Herrje«, sagte sie laut. »Ich muß unbedingt in den Louvre.«
    »Da werden Sie jetzt wohl vor verschlossenen Türen stehen.«
    Mit einem Laut des Erschreckens stolperte Sarah gegen den Fenstersims. Die dunkle Silhouette im Türrahmen stand vor dem Licht aus der Halle. Während sie ihn beobachtete, kam der Schatten näher und entpuppte sich als Mann.
    »Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie

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