Zahltag
Eduard leid? Er musste mehr herausfinden. Die Frau war osteuropäisch. Vielleicht Polin, Russin oder aus Moldawien —Chisinau. Lange hatte er nicht mehr an Chisinau gedacht. Er hätte etwas von Eduard erfahren, etwas, das er nicht wusste, nur ahnte. Doch Eduard war tot. Getötet, bevor er ihm antworten konnte. Das passte doch alles nicht zusammen. Das konnte doch kein Zufall sein. Er schwankte. Die Beruhigungstabletten, die er bekommen hatte, wirkten. Er fühlte sich müde. Er musste zurück in sein Hotel,
ein paar Stunden schlafen und etwas essen. Er musste wieder zu Kräften kommen. Das war das Wichtigste. Es war noch lange nicht vorbei, das spürte Wolfgang.
Moldawien — Vor fünf Jahren
Mila ging durch ihr altes Viertel. Sie trug die weiße Mütze mit den süßen Ohren daran. Sie hatte schon Löcher, doch das war Mila egal. Die Mütze war das Einzige, was ihr von ihrem alten Leben geblieben war. Viele Jahre war sie nicht mehr hier gewesen. Erst vor ein paar Monaten ließ er sie alleine nach draußen. Er vertraute ihr nun. Oder besser gesagt: Er wusste, dass sie nicht fliehen würde. Wenn sie nicht mehr zurückkäme, würde er sie finden und töten. Das sagte er nicht nur, das war auch so. Viele Mädchen hatte er im Laufe der Jahre getötet. Mila würde nicht fliehen. Sie wollte nicht sterben. Sie hatte fünf Jahre durchgehalten, um endlich wieder alleine durch die Straßen zu gehen. Jeden Montag durfte sie für einen Nachmittag raus — alleine. Auch wenn ein Aufpasser immer hinter ihr herlief, war es ein Gefühl wie Freiheit. Sie konnte durch die Straßen bummeln und durfte sich auch etwas kaufen. Doch das wollte sie nicht. Sie war auf der Suche nach jemandem. Sie wollte in ihr altes Viertel, in das Abrisshaus. Doch es stand nicht mehr da. Dieser Teil von Chisinau war immer noch heruntergekommen, doch vieles hatte sich verändert. Es gab nicht mehr viele Straßenkinder. Sie wurden von der Polizei verscheucht. Sie war auf der Suche nach Thomas und Anna. Sie wusste aber, dass sie sie nicht finden würde. Sie dachte an das Letzte, was sie von Anna gesehen hatte. Danach war sie geflohen. Sie hatte nichts gesagt, nichts getan. Sie hatte Anna im Stich gelassen. All die Jahre plagten sie schlimme Gewissensbisse. Sie musste herausfinden, was in den Jahren passiert war, doch wie? Kurz nachdem das mit Anna und Thomas passiert war, wurde sie von der Straße geholt. Sie kam in ein Bordell — dort war sie bis heute. Doch sie wusste, dass irgendwann der Tag ihrer Freiheit kam und dann würde sie sich rächen — für Anna und all die anderen.
Heute — Polen, ein Jahr nach der Entführung
Nach vier Stunden Schlaf war Wolfgang wieder auf den Beinen. Er duschte sich heiß und dann eiskalt. Das tat sehr gut. Er rasierte sich und dachte das erste Mal seit ein paar Tagen wieder bewusst an seinen Sohn. Er lebte. Vor wenigen Wochen hatte er nicht im Traum daran gedacht, dass er ihn wiedersehen würde, doch es gab noch Hoffnung. Auch wenn alles aufflog und er wegen Mordes angeklagt werden würde, es hätte sich gelohnt, wenn er dafür Alexander wiedersehen könnte. Er würde ihn befreien. Er würde aufklären, warum das alles geschah und er wusste auch genau, wo er hin musste. Obwohl er Angst vor diesem Ort hatte, obwohl er nicht wusste was ihn erwartete und wo er suchen sollte. Er würde heute noch abreisen und in einen Zug nach Chisinau steigen.
Als er sich ein Ticket kaufte war er überrascht , wie lange die Zugfahrt dauern würde — 47 Stunden. Egal, er musste los. Zum Glück würde er nur einmal umsteigen müssen, in Kiev. Er wusste, dass sich die Einreisebestimmungen seit 2007 geändert hatten. Deutsche brauchten nun kein Visum mehr. Damals, als er das letzte Mal dort war, war das anders gewesen. Schwieriger. Doch damals hatte sich Eduard um alles gekümmert. Er hatte die Papiere besorgt und alles klappte prima. Um 16:05 Uhr stieg Wolfgang in den Schnellzug. Er hatte sich einen Schlafwagen gebucht und legte sich gleich hin. Er musste schlafen, das war besser, als die ganze Zeit zu grübeln.
Mitten in der Nacht musste er umsteigen und um 3:52 Uhr saß er in einem überfüllten Zug nach Chisinau. Er fuhr seinen Laptop hoch, doch es gab kein WLAN. Er musste warten, bis er am Bahnhof ankam. Er musste dem Entführer mitteilen, dass Eduard tot war. Wie würde er reagieren? Wäre es für ihn eine gute oder schlechte Nachricht? Egal, er musste abwarten.
Es vergingen weitere unendliche Stunden , bis er in Chisinau
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