Zahltag
sagte sie.
„Ich suche Dr. Nikiforow.“
„Haben Sie Termin?“
Er schüttelte den Kopf und verneinte. „Ich bin Wolfgang Moser. Er kennt mich. Sagen Sie ihm meinen Namen.“
Sie ließ ihn nicht eintreten , sondern drehte sich um und ging. Als sie nach einer kleinen Ewigkeit wieder zurückkam, öffnete sie das Tor. Er folgte ihr den Weg entlang zum Anwesen. Die vordere Seite des Gebäudes war fast komplett aus Glas. Man gelangte über eine Treppe ins Haus. Der Eingangsbereich war hell und geräumig. Wolfgang kam sich unpassend und aufdringlich vor.
„Warten Sie hier , bitte.“ Die Frau deute auf eine Couchgarnitur.
Wolfgang nahm Platz. Er wurde immer nervöser, konnte kaum ruhig sitzen.
Es verging eine weitere Ewigkeit, bis jemand kam. Die Dame führte ihn in ein Arbeitszimmer, das direkt vom Eingangsbereich abging. „Nehmen Sie Platz. Es dauert noch, bis der Doktor kommt.“
Auch dieses Zimmer war groß und hatte eine Fensterfront. Es war hell, auch die Möbel. Das war selten, denn die meisten älteren Herren hatten dunkle, klobige Möbel. Nicht Dr. Nikiforow. Alles war neu und modern. Auf Wolfgang wirkte die Atmosphäre kalt. Er schaute aus dem Fenster in einen Garten. Alles war gepflegt und strahlte Reichtum aus. Die Pflanzen waren geschnitten und es standen Skulpturen aus Stein herum.
Wolfgang schreckte hoch, als sich die Tür öffnete. Er erkannte Dr. Nikiforow sofort. Er hatte sich beinahe nicht verändert. Seine Augen hatten tiefe Tränensäcke, genau wie damals. Er war etwas rundlicher geworden, aber das war schon der einzige Unterschied. Wolfgang stand auf und schüttelte ihm die Hand.
Dr. Nikiforow begrüßte ihn freundlich. „Herr Moser. Ich freue mich, Sie zu sehen.“
Wolfgang nickte, doch die Freude war nicht seinerseits. Dr. Nikiforow hatte ihm schon immer Angst eingeflößt. Er war undurchsichtig, ein Mensch, den normale Menschen nicht einschätzen konnten. Er stand über den Dingen, hatte weitaus mehr Mittel und Wege und kannte keine Grenzen. So hatte ihn Eduard vorgestellt und so war auch Wolfgangs Eindruck gewesen. Dr. Nikiforow beantwortete keine Fragen. Entweder man vertraute ihm oder man ging. Er war geblieben, vertraut hatte er ihm nicht, doch er hatte keine andere Möglichkeit gesehen.
Er bedeutete Wolfgang sich zu setzen. „Was wollen Sie hier, Herr Moser?“ Sein Deutsch war fast perfekt.
„Ich weiß es nicht genau.“
„Sie wissen es nicht?“
„Ich will Antworten … “
„Antworten auf welche Fragen?“
Wolfgang war sich nicht sicher, was er sagen sollte. Er räusperte sich und blickte in den Garten, in dem gerade ein Hund umhertobte.
Moldawien — Vor zwei Jahren
Es war Montag und Mila Popescu war im Zentrum unterwegs. Es war kein Aufpasser mehr dabei, denn sie gehörte nun zu den ‚Mamis’ — so nannte man die, die schon lange dabei waren. Sie durfte montags alleine raus, durfte einkaufen und durch die Stadt schlendern. Das ging schon seit einem Jahr so, doch sie hatte noch nie einen Fluchtversuch unternommen, warum auch? Sie hatte alles was sie brauchte: Essen, ein Dach über dem Kopf … Sie wurde nicht mehr geschlagen und wusste schon seit geraumer Zeit, wie man es schnell über sich ergehen ließ. Eines aber blieb gleich: sie trug immer noch die weiße Mütze von Anna. Wie lange hatte sie nach dem Mädchen gesucht, nach ihrem Namen gefragt? Doch niemand kannte sie, niemand wusste wo sie war. Oft dachte sie daran, was gewesen wäre, wenn sie etwas gesagt hätte, wenn sie zu Thomas gegangen wäre — doch wer hätte ihr schon geglaubt, ihr, einem Straßenmädchen? Sie schlenderte die Straßen entlang und kam zum Gemeindezentrum. Dort hielten sich viele Kinder auf, so wie sie damals. Obwohl sie erst neunzehn Jahre alt war, fühlte sie sich alt gegenüber den Jugendlichen hier. Sie kannte einige von ihnen und war froh, mal wieder mit jemandem zu reden, als eine alte Bekannte ihren Namen rief. Es war Olga. Sie hatten sich vor vielen Jahren kennengelernt. Olga erging es wie ihr. Sie arbeitete in einem Bordell, doch nicht im selben wie Mila.
„Hallo Mila.“ Sie umarmten sich, doch Olga wirkte nervös. Sie zog Mila am Arm von den anderen weg. „Es sucht jemand nach dir.“
„Was? Wer?“
„Ein Mann. Er fragt seit Tagen nach dir.“
Automatisch blickte sich Mila um. „Wie sieht er aus?“
„Er ist Deutscher und er kennt deinen Namen und deine Mütze.“
Milas Herz raste. Sie kannte nur einen Deutschen und nur einer kannte ihre Mütze.
Weitere Kostenlose Bücher