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Zahltag

Zahltag

Titel: Zahltag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petros Markaris
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Schnelle
erzählen.«
    Ich nehme auf dem zweiten Stuhl der »Galerie« Platz und warte ab.
Kurz darauf kehrt er mit dem Mokka und einer kleinen Portion gelierter Früchte
als Beilage zurück. Da ich [340]  Sissis’ Gepflogenheiten kenne, nehme ich gleich
den ersten Schluck. Andernfalls fängt er gar nicht erst an zu erzählen.
    »Nun, wie hast du es hingekriegt?«
    »Ich habe deine Tochter und Fanis zum Essen eingeladen.«
    »Und das allein hat genügt, um sie zu überzeugen?«, wundere ich mich.
    »Ich habe ihnen ein Menü à la Ai Stratis serviert«, stellt er klar.
    »Menü à la Ai Stratis? Was ist das denn?«
    Er lacht auf, wie jedes Mal, wenn er sich über meine Unwissenheit
amüsiert.
    »Das weißt du nicht, Charitos? Nun ja, du warst eben nie Wärter auf
den Verbannungsinseln. Das Menü à la Ai Stratis hat zwei Gänge. Der erste
besteht aus ›schwimmenden Bohnen‹, das heißt Wassersuppe mit ein paar einsamen,
harten Bohnen, der zweite aus ›schwimmenden Kritharaki‹. Zunächst kam der erste
Gang. Sie haben die Bohnen angestarrt, die wie Kakerlaken in der Brühe
herumschwammen, und das Essen gar nicht angerührt. Nur höflichkeitshalber haben
sie einen Löffel voll probiert, aber auch nur von der Wassersuppe.
Währenddessen habe ich angefangen zu essen, als wäre gar nichts dabei. Ehrlich
gesagt ist es mir schwer gefallen, weil ich dieses Essen nach so vielen Jahren
auch nicht mehr gewohnt war. Doch ich habe die Zähne zusammengebissen und
weitergekaut. Als ich fertig war, habe ich den zweiten Gang aufgetragen. Wieder
starrten die beiden die trübe Brühe mit den kleinen Teigwarenstückchen an, die
darin trieben wie ersoffene Ameisen. Diesmal machten sie nicht einmal den
Versuch, einen Löffel davon zu kosten, sondern sahen mich an, als sei ich
endgültig durchgedreht. ›Guckt nicht so, ich [341]  weiß, das ist ungenießbar‹,
sagte ich zu ihnen. ›Ihr müsst wissen: Das war das Essen, das man uns auf der
Deportationsinsel Ai Stratis vorgesetzt hat. Die eine Hälfte von uns bekam vom
Dünnpfiff schreckliche Darmkrämpfe, die andere Hälfte Hämorrhoiden. Die konnten
nicht mehr sitzen, verbrachten den ganzen Tag im Stehen und schliefen auf dem
Bauch. Wisst ihr, wie ich mir das alles hätte ersparen können? Ich hätte nur
zur Kommandantur zu gehen und eine Reueerklärung zu unterschreiben brauchen,
und am nächsten Tag wäre ich ein freier Mann gewesen. Obwohl ich damals
chronisch zu wenig Geld hatte, hätte ich mir draußen was Besseres leisten
können als das, was ich euch jetzt gerade vorgesetzt habe. Aber ich habe nicht
unterschrieben und jeden Tag, fünf ganze Jahre lang, diesen Fraß ertragen. Dir,
Katerina, geht es selbst in deiner jetzigen schwierigen Situation noch so gut,
dass du die Suppe nicht einmal antastest‹, habe ich zu deiner Tochter gesagt.
›Warum also willst du eine Reueerklärung unterschreiben und weggehen?‹ Sie saß
mit dem Löffel in der Hand da und starrte mich so lange an, bis sie schließlich
in Tränen ausbrach. Sie lief zu mir herüber und umarmte mich. ›Du hast recht,
Onkel Lambros, ich habe mich geirrt‹, sagte sie. ›Ich gehe nicht fort, sondern
ich werde mich der Situation stellen. Darauf gebe ich dir mein Wort.‹«
    Das also ist die Erklärung. Da wir nicht dasselbe durchgemacht haben
wie Sissis, konnten wir auch nicht so überzeugend argumentieren wie er.
    »Kommst du am Sonntag zu uns zum Mittagessen?«, frage ich ihn. »Du
kennst jetzt Katerina und mich. Da kannst du auch Adriani, meine Frau,
kennenlernen.« Und um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen, füge ich noch rasch
hinzu: [342]  »Außer, es wäre dir unangenehm, wenn dich ein Bulle zu sich nach
Hause einlädt.«
    Es scheint ihn zu rühren, dass ich mich für seine Bemühungen
revanchieren möchte. Und so tut er etwas Ungewöhnliches: Er lacht ein zweites
Mal auf.
    »Jetzt, da die Jagdsaison vorbei ist, kann ich auch bei einem Bullen
zu Mittag essen«, sagt er.
    »Jagdsaison?«, wundere ich mich.
    »Die Polizei jagt den Kommunisten nicht mehr hinterher, genauso
wenig wie die Linken dem Traum des Sozialismus. Also ist die Jagdsaison zu
Ende«, erläutert er und fügt hinzu: »Und weißt du was? Alle beide haben wir
nicht mal eine Schnepfe getroffen. Schau dich nur um, dann verstehst du, was
ich meine.«
    Zum ersten Mal drücke ich ihn an mich und flüstere ihm zu: »Adriani
und ich sind dir sehr dankbar für alles, was du für uns getan hast.«
    Obwohl seine Tasse noch halb voll ist,

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