Zahltag
verlegen an. Ich weiß nicht, ob seine Befangenheit daran liegt,
dass er nicht oft Besuche macht, oder daran, dass er zum ersten Mal seinen Fuß
in die Wohnung eines Bullen setzt. In der Zwischenzeit ist auch Adriani
dazugekommen.
»Willkommen, Onkel Lambros«, sagt Katerina zu ihm. Als er immer noch
zögerlich an der Tür steht, ermuntert sie ihn, doch endlich hereinzukommen.
Sissis fasst Mut, betritt die Wohnung und überreicht ihr die
Nachspeise. »Das ist von Kanakis«, meint er. »Die erste Konditorei am Platz bei
uns in Nea Filadelfia«, ergänzt er mit einem schüchternen Lächeln.
»Ja, die kenne ich«, entgegnet meine Tochter. »Als ich dich mit Papa
zum ersten Mal besucht habe, waren wir nachher bei Kanakis. Vielen Dank, aber
das war doch nicht nötig, Onkel Lambros.«
Als Adriani zum zweiten Mal »Onkel Lambros« hört, wirft sie erst mal
einen überraschten Blick auf Katerina, dann einen fragenden Blick auf mich. Von
solchen Vertraulichkeiten hatte ich nichts erwähnt, um ihren Zorn nicht noch
mehr zu reizen. Gezwungenermaßen vertagt sie das klärende Gespräch auf später
und streckt Sissis die Hand entgegen.
»Schön, dass Sie gekommen sind, Herr Sissis. Endlich lerne [371] ich
Sie kennen. Von Kostas und Katerina habe ich schon viel von Ihnen gehört.« Von mir
hat sie gerade mal das Nötigste und von Katerina gar nichts gehört. Aber sie
ist eben eine gute Gastgeberin, und als solche tischt sie ihm Artigkeiten wie
Salz und Pfeffer auf.
Nachdem Sissis Katerina auf beide Wangen geküsst und die Herren mit
Handschlag begrüßt hat, gehen wir ins Wohnzimmer weiter. Der gedeckte Tisch
steht bereit, und wir warten nur noch auf Adrianis Aufforderung, Platz zu
nehmen. In der Zwischenzeit blicken wir uns schweigend an. Sissis wirkt noch
ganz befangen, während wir Übrigen nicht recht wissen, wie wir das Gespräch
beginnen sollen. Schließlich bricht Fanis das Eis.
»Na, hoffentlich bekommen wir heute was Besseres aufgetischt als bei
Ihnen zu Hause, Herr Lambros«, meint er lachend.
»Was Schlechteres wohl kaum«, erwidert Sissis mit einem Lächeln.
»Sogar das Essen, das ihr euren Patienten vorsetzt, schmeckt besser.«
»Jetzt mit den ganzen Kürzungen wäre ich mir da nicht mehr so
sicher.«
»Also, wenn ihr einen Koch sucht, sagt Bescheid. Ich stehe zur
Verfügung.«
»Wenn sich der nationale Steuereintreiber weiter um die
Staatsfinanzen kümmert, kommt bald wieder was Besseres auf den Tisch«,
kommentiert Adriani, die mit dem ersten Gang hereintritt.
»Untersteh dich bloß, ihn einzubuchten«, stimmt Sissis ein, der
langsam auftaut, da er sich bei diesem Thema auf sicherem Boden fühlt.
[372] »Was soll ich denn machen, Lambros? Der Typ hat bereits vier
Menschen auf dem Gewissen, und keiner weiß, wie er zu stoppen ist«, gebe ich
zurück.
Wären wir zu zweit, würde er mir jetzt vorhalten, dass ich nicht aus
meiner Haut kann. Und ich muss sagen: Nachdem ich gestern den Erhängten gesehen
habe und davor schon sechs andere Selbstmörder, fände ich es tatsächlich gar
nicht mehr so schlimm, wenn er mir durch die Lappen ginge – auch wenn man uns
schwere Konsequenzen angedroht hat, ja selbst, wenn meine Beförderung dabei auf
der Strecke bliebe.
Wir nehmen am Couchtisch Platz, und Adriani trägt die Anchovis auf.
Sissis legt sich genau drei Stück auf den Teller. Er isst so langsam wie ein
Kind, dem man gesagt hat, es soll sein Essen ordentlich kauen. Aber in
Wirklichkeit hat er in der Verbannung gelernt, das spärliche Essen sorgfältig
zu kauen, damit es länger satt macht. Bei diesem Gedanken fällt mir ein, dass
ich von Sissis viele Dinge gelernt habe, die ich sonst niemals erfahren hätte.
Sissis isst mit der ganzen Ernsthaftigkeit und Würde, die ihm seine
Mutter – die aus Kleinasien vertrieben worden war – anerzogen hat.
»Vorzüglich!«, sagt er zu Adriani, als er fertiggegessen hat. »Die Anchovis
waren köstlich. Ich mache sie mir auch manchmal, aber an Ihre komme ich nicht
heran.«
»Ja, aber Sie essen ja gar nichts«, beschwert sich Adriani.
»Die Menge, die ich zu mir nehme, liegt immer zwischen wenig und
fast gar nichts. So ist es eben gekommen in meinem Leben. Schon bei uns zu
Hause gab’s wenig zu essen, aber in der Verbannung dann fast gar nichts mehr«,
erläutert er ihr schlicht.
Adriani versteht, worauf er anspielt, und nötigt ihn nicht [373] weiter. Katerina erhebt ihr Glas. »Auf dein Wohl, Onkel Lambros«, sagt sie.
»Ich bin dir so dankbar, dass du mir
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