Zahltag
von Röntgenbildern angebracht ist. An der anderen
Wand hängen Korassidis’ Diplome und Auszeichnungen.
Langsam zeichnet sich ab, wie das Verbrechen abgelaufen sein könnte:
Der Mörder stellt sich als Pharmavertreter bei ihm vor. Als er mit Korassidis allein
ist, tritt er unter einem Vorwand von hinten an ihn heran, beugt sich über ihn – beispielsweise um ihm ein Prospekt mit bestimmten Medikamenten zu erläutern –, und während Korassidis darin blättert, nutzt er die Gelegenheit und zückt
die Injektionsnadel. Dann schleift er ihn zur Liege und wartet auf das
Eintreten des Todes. Wäre die Lefkaditi aus irgendeinem Grund in die Praxis
zurückgekehrt, wäre ihm nichts anderes übriggeblieben, als auch sie zu töten.
Dieses Szenario passt auch gut zum Todeszeitpunkt. Wenn der Täter um
acht Uhr eintraf, hat er Korassidis gegen neun [80] das Gift gespritzt und ihn
zwei Stunden später, also gegen elf, abtransportiert. Um diese Uhrzeit ist die
Karneadou-Straße nahezu menschenleer, und er konnte die Leiche unbemerkt zu seinem
Wagen schaffen. Höchstwahrscheinlich hat er sie nicht in den Kofferraum
gepackt, sondern auf den Rücksitz verfrachtet.
»Ist Ihr Computer mit dem von Dr. Korassidis vernetzt?«, frage ich
die Lefkaditi.
»Nein, sie sind nicht verbunden. Auf meinem Computer befinden sich
nur der Terminkalender und die Adressenliste. Herr Dr. Korassidis hatte auf
seinem Computer die gesamte Patientenkartei gespeichert.«
»Nehmen Sie sich die Festplatte gründlich vor, vielleicht bringt uns
das weiter«, sage ich zu Dimitriou.
Der Behandlungsraum ist nur mit einer Schiebetür vom Wartezimmer
getrennt. Hier stehen ein paar Stühle aufgereiht, darüber hinaus noch zwei
bequemere Sessel. Auf dem Tischchen in der Mitte des Wartezimmers liegen
haufenweise alte Zeitschriften. Die Wände sind mit touristischen Aufnahmen von
Akropolis, Delphi, Kap Sounion und dem antiken Epidauros geschmückt. Der
Kunstsammler Korassidis erachtete seine Patienten wohl seiner geliebten
Sammlerobjekte für unwürdig. Gerade als ich in die hinteren Praxisräume vordringen
will, wo ich Korassidis’ Liebesnest vermute, läutet mein Handy.
»Wo sind Sie gerade, Herr Kommissar?«, höre ich Koulas fragende
Stimme.
»In Korassidis’ Arztpraxis.«
»Können Sie sofort zur Dienststelle kommen?«
»Wieso? Gibt es ein neues Opfer?«, frage ich beunruhigt.
[81] »Nein, aber ich bin im Internet auf etwas gestoßen. Das müssen
Sie sich unbedingt ansehen.«
Koula würde mich nicht ins Büro bitten, wenn nicht etwas Dringendes
vorläge. Ich lasse Dimitriou vor Ort weitermachen und kehre mit Dermitsakis im
Streifenwagen ins Präsidium zurück.
[82] 10
Sehr geehrter Herr Athanassios
Korassidis,
Sie sind als Chirurg an der
Ajia-Lavra-Privatklinik tätig. In Ihrem Besitz befinden sich eine zweistöckige
Villa mit Swimmingpool in Ekali, ein Landhaus auf Paros, ein Rennboot und eine
Gemäldesammlung im Wert von mehreren hunderttausend Euro. Darüber hinaus
finanzieren sie Ihren beiden Töchtern ein Studium im Ausland.
Beim Finanzamt geben Sie ein zu
versteuerndes Nettoeinkommen von 50000 Euro an. Nach meinen Berechnungen liegt
die von Ihnen zu zahlende Steuerschuld zwischen 200000 und 250000 Euro.
Zahlen Sie daher bitte innerhalb der
nächsten fünf Tage den Ihrem Einkommen entsprechenden Betrag von 200000 Euro an
das zuständige Finanzamt.
Widrigenfalls wird anders abgerechnet, und
Sie werden liquidiert.
Der nationale Steuereintreiber
Der Brief datiert vom 10. Mai 2011 und wurde demnach eine Woche
vor Korassidis’ Ermordung abgeschickt. Ich sitze vor Koulas Bildschirm und habe
das Mahnschreiben nun schon zum dritten Mal durchgelesen. Mir ist immer noch
nicht klar, ob das Ganze ein Witz ist oder ob der sogenannte nationale
Steuereintreiber seine Worte ernst meint.
[83] Doch das Datum sagt mir, dass es sich nicht um einen Scherz
handeln kann. Er hat das Schreiben am 10. Mai verfasst und Korassidis eine
Frist von fünf Tagen bis zur Zahlung der von ihm berechneten Einkommenssteuer
gesetzt. Offensichtlich nahm Korassidis das Ganze nicht ernst, und nach Ablauf
einer Woche war er tot.
Doch wer tötet einen Menschen, nur weil der seine Steuern nicht
zahlt? In meinen langen Jahren bei der Mordkommission habe ich von den
unwahrscheinlichsten Tatmotiven gehört, aber Steuerhinterziehung kommt mir zum
ersten Mal unter. Wenn man alle unsere Steuersünder umbrächte, würde sich die
Bevölkerung Griechenlands bald auf Beamte,
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