Zander, Judith
beißen. In deinen Brüsten pochte es heiß und hart, du ließt
nichts mehr heran, nichts heraus. Du bekamst Penicillin, aber dein Körper
stellte sich schlau an, viel schlauer als du. Der Arzt beschimpfte dich. Du
hättest eine Allergie angeben müssen. Du warst dir sicher, dass dein Körper sie
in der Hinderhand behalten hatte, um sie genau jetzt auszuspielen. »Grinsen Sie
nicht so dämlich!«, sagte der Arzt. Falls er >Sie< zu dir sagte. Deine
Mutter rührte M ilasan an, während dein Magen das
Berlocombin schlecht vertrug. Dir war, als lägen Vorwürfe in ihren Blicken.
Dein Körper hielt alles auf Abstand.
Du zerrupftest den alten
Korb-Kinderwagen, du passtest schließlich nicht mehr hinein, und jemand anderes
erst recht nicht. Du konntest unmöglich rausgehen. Deine Mutter brachte aus
Anklam einen neuen an, er war gelb wie eine Strafe. Etwas anderes hätte es
nicht gegeben. Natürlich nicht. Es gab überhaupt nichts anderes mehr. Du
schobst ihn aus dem Dorf raus, am Wäldchen vorbei und zurück, immer den
gleichen Weg, so konntest du ihn bald mit geschlossenen Augen gehen, mit Augen,
in denen der enteignete Schlaf brannte, der Unschlaf, eine Enteignung
jedenfalls, unscharf. Du sahst sie nicht, und sie sahen dich nicht. Sogar das
Schreien ließ für eine Weile nach. Du hörtest nichts, nicht mal ein entferntes
Moped.
Nach vier Monaten bekamst du
einen Krippenplatz. Sie sagten dir, du hättest sonst länger warten müssen. Es
klang nicht wie ein Privileg. Es klang, als wärst du schuld. Bruni Deetz' Baby
war gestorben, einfach so, wie es hieß, »einfach so«, sagte die Schrödersche in
der Krippe und zog die Brauen hoch dabei. Bruni Deetz hatte noch fünf oder
sechs andere Kinder und tat dir nicht sonderlich leid. »Das sieht ja aus wie
bei Deetzens«, sagten die Leute, wenn sich ein Haushaltsgefüge nicht mit ihrem
Gestaltungssinn von der Größe eines Scheuerlappens, eines Tischläufers
deckte. Du fragtest dich, ob du jetzt auch dazu gehörtest, und schobst das Wort
>Assi< wie eine exotische, scharfe Speise auf deiner Zunge herum. Einfach
so, dachtest du. Für einen Moment, der so klein war, dass du nicht weißt, wie
dein Gedächtnis ihn im Gerumpel all der Jahre nicht verlieren konnte, spürtest
du etwas wie Neid. So was passiert. Roland Möllrich war auch tot. Deine Mutter
hatte es dir berichtet, du hattest verständig genickt, beinahe wie eine
Bestätigung. Einer Sache, die dir lange bekannt war, oder ihr. Es veränderte
nichts. Außer, dass du jetzt endgültig hättest herumlaufen und alles Mögliche
erzählen können. Niemand wäre so dumm gewesen, dir zu glauben.
Du gingst zurück. So weit du
eben konntest, dieses kleine Stück. Dein Bett im Kießower Wohnheim war nicht
belegt worden. Deine Mutter hatte nichts dazu gesagt, sie konnte schlecht
sagen, sie sei froh, nicht wahr. Sie konnte schlecht sagen, ein kleines Kind
sei ihr zuviel, wo ihr doch Peter nicht zuviel gewesen war und selbst du
nicht. Sie konnte das: unbekannte Kinder aufziehen. Du warst an den Wochenenden
da, allen. Es kam dir nie so vor, als seist du vermisst worden. Es kam dir
nicht so vor, als vermisstest du etwas. Du wünschtest es dir aber manchmal.
Wenn das Kind dich anlachte, lachtest du zurück. Es gelang dir nicht, auch
zurückzuweinen. Kathi arbeitete alles mit dir nach. Du ludst sie nie ein, sie
dich oft. Du fuhrst nie hin, auch nicht im Urlaub, den ihr im Sommer nehmen
musstet. Wohin mit dir. Im Bus half dir selten jemand, wenn du nach Anklam
fuhrst. Manchmal war kein Platz mehr für einen weiteren Kinderwagen, dann
drehtest du um und gingst wieder nach Hause. Es machte keinen Unterschied. In
Anklam liehst du dir Bücher aus, von denen du zu wissen glaubtest, dass Peter
sie mal gelesen hatte. Du erwogst desöfteren, dich zwischen den Regalen zu
verstecken, dich einschließen zu lassen, wenigstens eine Nacht an einem fremden
Ort zu verbringen. Aber der gelbe Kinderwagen vor der Tür hätte dich immer
verraten. Du wusstest das. Trotzdem warst du jedesmal überrascht, falls man das
so sagen kann, ihn beim Verlassen der Bibliothek dort vorzufinden. Ein paarmal
wärst du fast dran vorbeigelaufen.
Wie dumm, daraus eine Geschichte
zu machen. Fast bist du so dumm, sie auch noch zu glauben. Peter, Paul and
Michael. Sollen sie erzählen. Dir ist nichts passiert. Drei oder vier Jahre
lang, was macht das schon aus. Wenn du Glück hast, ein Zwanzigstel. Niemand
kann sich ein Zwanzigstel vorstellen. So schmal, es passt beinahe gar
Weitere Kostenlose Bücher