Zander, Judith
dran gewöhnt. Es hat fast
etwas Erregendes bekommen, dieses Atmen in letzten Zügen. So, als könnte gleich
morgen irgendwas Tolles oder so passieren. Irgendwas eben. Paul zum Beispiel,
vielleicht. Andererseits muss man immer noch zur Schule, und solange das nicht
aufhört, wird gar nichts wirklich aufhören, und gar nichts wirklich anfangen.
Dieser Geburtstag sollte nun
gleichzeitig die Funktion einer Art Abschiedsparty erfüllen, was eigentlich
albern war, ich meine, wir zogen von Anklam in ein sechs Kilometer entferntes
Dorf und ließen damit nicht gerade die Grenzen der bekannten Welt hinter uns,
nur dass sich das für meine allesamt in Anklam wohnenden Freundinnen
anscheinend anders darstellte, denn sie waren es, die es so nannten: »Du machst
also ne Abschiedsparty!« Es klang, als freuten sie sich drauf. Und ich fühlte
mich zu irgendwas verpflichtet.
Fragte erstens mal unseren
Pastor, den wir inzwischen duzten und mit seinem Vornamen, Konrad, ansprachen,
was auch so eine Idee der anderen und mir selber einigermaßen unangenehm war,
auf eine ähnliche Art wie seine übergroßen Ohrläppchen, ob ich für meinen
Geburtstagsabend den Kellerraum im Gemeindehaus bekommen könnte. Konny, wie wir
ihn unter uns nennen, hatte erwartungsgemäß nichts dagegen, seine Antwort war
wie üblich luftgepolstert mit Ausdrücken der Sorte »selbstverständlich«, »na
meinetwegen gerne«, »aber klar doch«, er hatte »Verständnis« für meine
»Situation«. Ich war kurz irritiert und überlegte, welche »Situation« in aller
Welt er bloß meinte, ich fühlte mich durchschaut, ohne zu wissen, in welcher
Hinsicht. Was wusste er über mich? Na ja, bloß dass wir gerade aufs Dorf
zogen.
»Ihr wollt wohl nicht zwischen
Umzugskartons feiern, was?«, sagte er mit einem Ausmaß an Verständnis, das weit
über meins ging, und ließ darauf sein hohes, kurzes Kichern ab, bei dem er
keine Miene verzieht.
»Nicht so gerne«, sagte ich
bloß, denn jetzt ging es darum, einem dreistündigen Gespräch mit ihm zu
entkommen, das heißt einem seiner gefürchteten Monologe, die sich zu neunzig
Prozent um seine Zeit in Namibia drehen, wo er jahrelang mit seiner Familie
gelebt und einer deutschsprachigen Gemeinde vorgestanden hatte, bevor er nach
Anklam sozusagen versetzt worden war, und für die er überall
Gesprächsanknüpfungspunkte sucht und unglücklicherweise auch findet.
»Na ja, ich weiß noch, wie wir
damals mit Sack und Pack nach Namibia sind, und Ruth, also meine Frau,
hochschwanger ...« Worauf er eine seiner nicht minder gefürchteten Kunstpausen
einlegte, mit denen er, wenn sie in seinen Predigten auftreten, der ganzen
Gemeinde regelmäßig ein schlechtes Gewissen verursacht, zunächst nur, weil die
andächtigen Zuhörer sich fragten, ob sie Anlass für dieses plötzliche
Verstummen gegeben hatten, weil einer unter ihnen vielleicht nicht andächtig
genug zugehört hatte, jetzt, weil sie in dieser Pause der beschämenden Tatsache
inne werden, dass sie allesamt den Worten des Pastors nicht genügend
Aufmerksamkeit geschenkt haben, da sie sich beim besten Willen nicht an seinen
letzten Satz, nämlich nicht an den Grund für die Pause erinnern können und
überdies sich zusammenreißen müssen, in ebendieser Pause nicht einzunicken.
Man muss also leider sagen: Konny und seine Diktion erfreuen sich keiner
sonderlichen Beliebtheit.
Zu Unrecht, wie ich in diesem
Augenblick fand, warum wollte denn niemand das Gute daran sehen? Das Gute daran
ist, dass man diese Lücke in seinem Sprech- und vermutlich auch Denkprozess
dazu nutzen kann, sich zu verabschieden, was ich also tat.
»Ach ja, Romy, na dann ...
Vielleicht schau ich am Samstag mal vorbei, aber ich kann nichts versprechen.«
Ich hatte keine Ahnung, was ich dazu sagen sollte, und nickte nur vorsichtig.
Beinahe verständnisvoll.
Punkt zwei war die
Bowlingbahn. Die ist relativ neu und nimmt unter unseren spärlichen
Freizeitaktivitäten einen gewissen Stellenwert ein. Das heißt, zuerst war mir
das ja wie ein etwas zweifelhaftes Vergnügen vorgekommen, einfach deshalb, weil
ich seit jeher eine starke, wenn auch, zumindest meinen Eltern, unerklärliche
Abneigung gegen populäre Vergnügungen aller Art empfinde. Und ich kann gar
nicht sagen, wie glücklich ich mich schätze, dass die Zeit, als man noch
veranlasst wurde, mit Mama und Papa Sonntags- und Ferienausflüge zu irgendwelchen
Stadt- und Strandfesten, historischen Spektakeln und Töpfermärkten zu
unternehmen, mittlerweile
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