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Zander, Judith

Zander, Judith

Titel: Zander, Judith Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: die wir heute saagten Dinnge
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eigentlich
keine Freundin mehr hab. Dass mein Vadder säuft, dass meine Mudder auch
angefangen hat, dass mein Vadder meine Mudder grün und blau schlägt, dass ich
zur LPG muss und sie krank melden. Dass ich nicht weiß, was ich machen soll.
    Na ja, Gerda hat dann
aufgehört, mir zu schreiben, aber auch nicht einfach so. Ihr letzter Brief war
kaum ne halbe Seite lang, und sie hat sonst sechs oder acht geschrieben, das
war für sie n Klacks, während ich mich immer mehr rumgequält hab, überhaupt
zwei oder drei vollzukriegen. Sie hat da nix weiter geschrieben, als dass ihr
Vater gestorben ist. Aber >gestorben< hat sie nicht geschrieben. Sondern
so, wie es war. Und er war Pastor. »Mein Vater hat sich letzten Mittwoch
aufgehängt. Meine Mutter hat ihn gefunden, aber er war schon tot.« Und dass sie
mir jetzt nicht mehr schreiben könnte, und ich soll nicht fragen, warum, und
ihr auch nicht mehr schreiben.
     
    JOHN &
PAUL
     
    U nd wenn all
die unglücklichen M enschen auf der W elt
    sich
verständigen wird es eine A ntwort
geben:
    lass es
sein auch wenn sie getrennt sein
    mögen gibt
es immer noch eine möglichkeit
    die sie
sehen werden
    es wird
eine antwort geben:
    lass es
sein
     
    ROMY
     
    Das werd ich nie kapieren, wo
die ihre Klingel haben, vielleicht ist das die Wachlowski'sche Art, sich vor
ungebetenen Besuchern zu schützen. Ich aber wurde wieder mal gebeten, was gar
nicht nötig gewesen wäre, ein Wort hätte genügt, also: ein Name. Und während
ich noch überlege, ob ich ihn vor mir selber aussprechen soll, geht die Tür
auf. »Ich hab dich gesehen, vom Fenster aus«, sagt Ella und lächelt ein
bisschen verlegen. »Ich hab Kuchen gebacken. Muss bloß noch Guss rauf.«
    Sie lässt mich vorgehen in ihr
Zimmer, ich suche mir den roten Sessel aus, der, in dem Paul das letzte Mal
gesessen hat, weshalb mir mein Hintern darin jetzt fast als unrechtmäßiger, na
ja, Besitzer vorkommt, aber noch ist wohl nichts endgültig festgelegt.
    »Der ist toll«, sage ich, Ella
lächelt wieder, eigentlich ist sie ganz hübsch, man sieht das sonst gar nicht
so. Zumindest hat sie das, was immer mein Wunschtraum war: lange dunkle Haare.
Meine eigenen sind ja bloß undefinierbar gelb und irgendwie nicht der Rede
wert.
    Ich stelle mir Ella in einem
mongolischen Epos vor, wie sie unter bleischweren Wolken mit wehender schwarzer
Mähne auf einem Steppenpferd mit ebenso wehender Mähne über die Steppe reitet,
ihr Haar die Todesflagge des dräuenden Krieges: Wird sie den kühnsten aller
Krieger, ihren herrlichen Geliebten, noch erreichen in seiner Jurte, noch
verkünden können ihm die schreckliche Botschaft, bevor das feindliche Heer
gleich einem donnernden, vernichtenden Ungewitter über die unbewehrte Siedlung
hereinbricht?
    »Paul ist noch nicht da«, sagt
Ella, was ich ja sehe. »Ich hoffe, er kommt noch«, fügt sie plötzlich hinzu,
und dann, fast entschuldigend: »Es ist ziemlich viel Kuchen. - Ich mach den
mal fertig.«
    Die Treppe gibt bei jedem
ihrer Schritte ein knarzendes Geräusch von sich, obwohl man genau hören kann,
dass Ella versucht, sacht aufzutreten, nicht nilpferdmäßig hinunterzupoltern,
und damit wahrscheinlich das erste Mal die wahrscheinliche Ermahnung ihrer
Eltern befolgt: Polter nicht so die Treppe runter. Und alles wegen mir? Paul
ist ja noch nicht da. Vielleicht auch bloß, weil frisch gebohnert ist, dieser
altertümliche, wie aus einem versunkenen Jahrhundert wieder aufgestiegene
Bohnerwachsgeruch dringt bis in Ellas Zimmer. Ich hatte ihn völlig vergessen.
Er muss quasi mit der DDR verschwunden sein, die ich kaum kennengelernt habe,
kaum hatte ich ihren Namen schreiben gelernt, war sie schon wieder weg. Im
Moment fällt mein Leben in zwei Hälften auseinander, wie ein geteilter Apfel,
und genau wie ein Apfel auch nicht in zwei gleich große: Die eine Hälfte
bekommt den Stiel, mehr vom Kerngehäuse und auch mehr Fruchtfleisch, bei mir
heißt sie wiedervereinigtes Deutschland, und die kleinere, unkompliziertere
DDR, und sie ist es deshalb, weil ich ein achtjähriges Kind war, als mein Leben
zwei Hälften bekam. Die mit der Zeit so antrockneten und verschrumpelten, dass
sie beim Gegeneinanderhalten nicht mehr zusammenpassen. Und merkt der Apfel die
Teilung? Ich merke nichts. Oder nur so kleine Sachen, Unterschiede im Aroma,
Bohnerwachs.
    Unsere Hosenboden waren
nachher immer voll von rotbraunen Schmierstreifen, wenn wir in unserem alten,
aber ehrenwerten Mietshaus wieder mal die Treppe runtergerutscht

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