Zander, Judith
Ansehen, und der Wind, der
mich über die dürre Ebene zunehmender Distanz von ihnen beständig anweht, trägt
mitunter den Brechreizgeruch von Gin Tonic in meine Nase, legt mir die
staubige Unbarmherzigkeit von Volleyball auf die Zunge.
Zum Geburtstag an sich gibt es
eigentlich nicht viel zu sagen. Irgendwie ist mir das auch alles ein bisschen
peinlich. Als ob es mir peinlich sein müsste! Das ist so wie mit diesen
Talkshows, das halte ich auch nicht aus, wie die Leute sich da zum Klops
machen. Aber hier liegt die Sache noch ein bisschen anders, immerhin ging es ja
um mich. Und das Peinliche daran war
vielleicht nur, dass es überhaupt nicht um mich ging.
Da saß das Geburtstagskind
dann allein im ockergetünchten Gemeindehauskeller zwischen Tellern und Torte
und wartete eine geschlagene Stunde auf seine Geburtstagsgäste und fragte sich,
ob es sich im Datum geirrt hatte. Doch siehe, um kurz vor acht tat sich die Tür
auf, und der erste Gast trat ein. Es war Susanne. Ihre Begrüßung: »Hallo! Wo
sind denn die anderen?«
Ich sagte, dass sich das
leider auch meiner Kenntnis entzöge, aber vielleicht sei das alles ein
Missverständnis. Vielleicht warteten inzwischen alle anderen schon an der
Bowlingbahn auf mich, wäre doch möglich, oder? Ich glaube, für einen Augenblick
war ich wirklich überzeugt davon. Aber als wir dann an der Bowlingbahn ankamen
und kein Schwein da war, wunderte mich das eigentlich schon nicht mehr, und nur
Susanne versuchte noch notdürftig, ein bisschen Verblüfftheit
aufrechtzuerhalten. »Aber du hast doch gesagt, um acht, oder nicht?«
»Ich habe um sieben gesagt, um
sieben im Gemeindehaus.«
Susanne zuckte mit den
Schultern. »Tja.«
Sie setzte sich zu mir auf die
flache Mauer, sprang aber gleich wieder auf und fing an, vor mir hin- und
herzulaufen, ihre Arme im Takt ihrer Schritte zu schwingen und in gewissen
Abständen tief Luft zu holen, um sie mit Nachdruck wieder auszustoßen. Ihr Atem
hing für Momente weiß und formlos wie ein beständig wiederholter Vorwurf in der
frostigen Luft. Insgesamt sah es so aus, als warte nicht ich, sondern sie auf
etwas. Insgesamt sah es so aus, als warte sie darauf, dass ich sage: Du kannst
gehen.
Es war weit nach halb neun,
als schließlich Anja eintraf, die Susanne umarmte, als hätten sie sich
mindestens elf Monate nicht gesehen, und behauptete, sie wäre schon mal da
gewesen, was mich zwar in meiner Missverständnis-Annahme bestätigte, leider
aber auch in der, wie diese Missverständnisse zustande kommen: weil mir
offenbar nie jemand richtig zuhört.
Anja überreichte mir ihr
Geschenk, der Form nach zu urteilen ein Kalender, auf dessen Erscheinen man
sowieso todsichere Wetten abschließen kann, wenn man gegen Ende des Jahres Geburtstag
hat, und weshalb auch zu Neujahr immer wenigstens drei Exemplare Obdach in
meinem Zimmer beanspruchen. Und ich weiß nicht, ob diese Kalenderüberversorgung
seit meiner frühesten Jugend die Ursache meiner Besessenheit von allem, was mit
Zeit und ihrem Vergehen zu tun hat, darstellt oder ob erst diese zwanghafte
Passion mich dazu veranlasste, tatsächlich allen Kalendern Platz sowohl an
meinen vier Wänden sowie auch in meinem Tagesablauf einzuräumen. Denn es
vergeht eigentlich kein Tag, an dem ich nicht in einem von ihnen und meistens
sogar allen blättere - als wollte ich überprüfen, ob die Zeit auf allen gleich
vergeht, beziehungsweise eine absurde kleine Hoffnung bestätigt finden, dass
sie es nicht tut -, um komplizierte Berechnungen zu meiner Jahresplanung
anzustellen, vielleicht um mir vorzugaukeln, ich hätte dabei ein Wörtchen
mitzureden, nur um sie gleich darauf wieder zu vergessen, was mir die
Möglichkeit bietet, am nächsten Tag die gleiche Operation aufs Neue vornehmen
zu können. Es ist eine Art von Freizeitbeschäftigung.
Zwischendurch, in der Schule,
kommen mir Sätze in den Kopf, die so unwiderlegbar wie panikverursachend sind,
Sätze wie: H eute ist der erste T ag vom R est deines L ebens . Oder: W enn die Z eit das K ostbarste
ist, was wir haben, ist die Z eitverschwendung
die allergrösste V erschwendung . Mit der Zeit destillierte
sich daraus in meiner geheimen Brennerei ein Tröpfchen mit dem Namen C arpe diem , das je nach Stimmungslage
und Genussmenge anregend bis schock- oder ohnmachtsauslösend wirkt, oft in
Verbindung mit der Frage: Was tue ich hier eigentlich?
Womit der ganze Geburtstag
schon kurz und bündig zusammengefasst wäre, denn womöglich bedeutet es eine
doppelte
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