Zander, Judith
der man den Nachmittag lang durchs Dorf
gelaufen war, würde sich einem als das, was man Freundin nannte, auch in
Zukunft anschließen, ein wieder neues Verlangen bekämpfen, nämlich das, Bärbel
kräftig vor die Brust zu boxen, auf dass sie rücklings hinklatschte auf das
beigegraue Linoleum. Boxen war wirksamer als Ohrfeigen, vor allem bei Mädchen.
Du konzentriertest dich auf
das Gesicht der Lehrerin. Sofort war da zu sehen, dass sie Bärbels Worten
Glauben schenken wollte. Sofort aber auch, dass ihre Konsequenz Mühe hatte,
sich zu der gewohnten, alles überschattenden Breite auszuwachsen, da man ihr in
der deutschen demokratischen Lehrerinnenausbildung gründlich beigebracht
hatte, den Glauben an Wunder aufzugeben, was sich schlecht mit der Tatsache
vertrug, dass ein solches nun zart auf Weiß vor ihr lag. Auch Bärbel hatte
nicht für alles eine Erklärung.
Du schwiegst. Dein Blick lag
auf der Kornblume, und kurzzeitig versuchtest du dich abzulenken, indem du
überschlugst, wie viele Kornblumen wohl im Laufe der Zeit in dieser Schule und
in der gesamten Deutschen Demokratischen Republik ... Du gabst es schnell auf,
es lohnte sich nicht, zu irgendeinem Ergebnis zu kommen. Du sahst, dass die
Hände der Lehrerin drauf und dran waren, das Klassenbuch aufzuschlagen und
einen Tadel für dich einzutragen, mindestens eine Fünf. Aber sie schickte euch
auf eure Plätze, und du vergaßt alles sofort wieder unter der Anstrengung,
Buchstaben für Buchstaben mit der falschen, mit der rechten Hand malen zu
müssen. Du wusstest das da ja noch nicht: dass als Ursache zwei vertauschte
Gehirnsphären anzusehen waren, also quasi eine Krankheit, die dir einen
lebenslangen Entschuldigungszettel hätte bescheren können, eine Schreib-, wenn
nicht gleich eine Schulbefreiung, die dir zu der Zeit ganz wie eine Befreiung
vom sogenannten Da-Sein erschienen wäre. Als ihr die welligen Blätter am
nächsten Tag zurückbekamt, stand auf deinem eine Drei. Eine Drei wie auf dem
von Holger, dem immerhin zwei Tage früher als dir die Kornblumenhausaufgabe
eingefallen war.
Deine Mutter sah dich da
stehen, in der dämmrigen Küche, wie dir die Blume lang und leblos an der Hand
hing, sie sagte: »Gib her!« Sie machte Feuer im Beistellherd, sie legte die
unwahrscheinlich blaue Blume vorsichtig zwischen die F reie E rde , auf den Tisch, auf dem schon
das Abendbrot stand, sie schob alles beiseite, und als die Kohlen glühten,
zerhackte sie sie mit dem Feuerhaken und füllte die Glut in das schwarze Bügeleisen.
Sie bügelte die Zeitung, und daran musstest du denken, als du später, viel
später in England davon hörtest, dass diese Tätigkeit eine ganz gewöhnliche ist
unter den Aufgaben eines Butlers. Und wäre es nicht eine von diesen, nämlich deinen Erinnerungen gewesen, du
hättest lächeln müssen über das wohl einzige Beispiel einer fruchtbaren
Verbindung von Feudalismus und Sozialismus. Deine Mutter ließ die Zeitung
abkühlen und klappte sie langsam auf. Du sahst das Wunder.
Der Tisch steht noch in der
Küche, und du bist dir sicher, dass er während all der Jahre hier gestanden
hat, und dass du morgen, wenn Peter ihn abholt, die vier Eckpunkte eines
Quadrats auf den Dielen finden wirst, kleine, aber deutliche Abdrücke, wie man
sie manchmal bei Toten zu beiden Seiten der Nasenwurzel sieht oder an den
Fingern. Die Spuren der Dinge, denen stets die Rolle der Überlebenden zufällt.
Sie müssen so tun, als würden sie noch gebraucht. Anderweitig.
Die Stühle sind schon weg.
Peter hat sie in seinen kleinen Firmentransporter geladen und sie in irgendein
Obdachlosenoder Asylbewerberheim in Neubrandenburg gebracht. Er selber brauche
sie nicht, und sie hätten ja nun auch keinen besonderen Wert, und warum nicht anderen
damit helfen, nicht wahr. Du bist dir nicht sicher, ob er das Wort
>gemeinnützig< gebraucht hat, es kommt dir unwahrscheinlich vor. Du
denkst daran, wie dieses Wort früher über seine Zunge geholpert wäre. Du hast
genickt. Als er vorgefahren war, hast du auf der Seite des Autos in großer
blauer Schrift und Anführungszeichen lesen können: Nix wie weg . Darunter, kleiner: S chädlingsbekämpfung, S chimmel- und S chwammsanierung, P eter H anske, Adresse, Telefonnummer. Du
glaubtest erst, du hättest dich verlesen, denn was sollte das bedeuten.
Natürlich wusstest du, dass Peter diesen Beruf hat: Kammerjäger. Warum, aus
welchem vermutlich ganz plausiblen Grunde, interessierte dich gar nicht. Du
hattest dich gewundert, ja,
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