Zauber der Hoffnung
lustige und unabhängige Frau gewesen. Eine Frau, die Katherine Thorne sehr ähnelte.
Als Claire acht oder neun war, hatte ihre Mutter als Sprecherin des Elternbeirats versucht, genug Geldmittel aufzutreiben, um eine neue Grundschule zu errichten. Claire konnte sich noch gut daran erinnern, wie Ruth energiegeladene und überzeugende Reden geschwungen hatte, darüber, wie wichtig es war, dass Kinder in einer sauberen und sicheren Umgebung unterrichtet wurden.
Die Erinnerung daran machte sie jedes Mal traurig. Zu groß war der Unterschied zwischen dieser Frau und ihrer Mutter heute.
Seufzend zog sie den Bürostuhl mit den Rollen heran, den sie viel praktischer fand als den Rollstuhl aus dem Krankenhaus, setzte sich darauf und hielt damit auf die Küche zu. Sie öffnete den Kühlschrank und überlegte, was sie sich zum Abendessen aufwärmen sollte. Nach einer Weile entschied sie sich für die unglaublich leckere Kartoffelrahmsuppe, die Dermot Caine ihr vor ein paar Tagen vorbeigebracht hatte – geradezu perfekt für so eine kalte, stürmische Nacht.
Sie gab etwas davon in eine Schale, dankbar, dass die Kinder vor ihrer Abfahrt noch die Spülmaschine ausgeräumt hatten, und stellte sie in die Mikrowelle. Während sie wartete, wanderten ihre Gedanken zurück zu ihrer Mutter.
Sie konnte den Zeitpunkt genau bestimmen, an dem Ruth sich verändert hatte. Es war der zwanzigste April vor vierundzwanzig Jahren gewesen, dreiundzwanzig Uhr einundvierzig. Sie selbst war zwölf, ihr Bruder acht, genauso alt wie ihre Kinder jetzt. Es war eine regnerische Nacht. Sie hatte geschlafen und wurde durch irgendetwas geweckt. Die Klingel, wie sie später erkannte. Claire lag blinzelnd im Bett, lauschte dem Kratzen der Äste über die Fensterscheibe und fragte sich, wer sie so spät noch besuchte und ob ihr Vater wütend werden würde, weil er immer so früh zur Arbeit gehen musste.
Und dann hörte sie den Aufschrei ihrer Mutter, ein verzweifeltes,entsetzliches Geräusch. Mit einer dunklen Vorahnung verließ Claire das Zimmer, schlich zur Treppe und schaute durch die Gitterstäbe nach unten.
Sie erkannte den Polizeichef Dean Coleman, konnte aber nur einzelne Worte verstehen.
Tot. Beide erschossen. Eifersüchtiger Ehemann. Es tut mir leid, Ruth .
Von dieser Sekunde an hatte sich einfach alles verändert. Die Gerüchte verbreiteten sich schneller als ein Lauffeuer. Die Erwachsenen in ihrer Familie versuchten, alles von ihr und ihrem Bruder fernzuhalten. Doch immer wieder schnappten sie Bruchstücke eines Gesprächs auf und konnten sich nach einiger Zeit selbst die ganze Geschichte zusammenreimen.
Ihr Vater – der Mann, den sie bewundert hatte, Vorsitzender der größten Bank der Stadt, wichtiges Mitglied der Kirchengemeinde – hatte eine heiße Affäre mit einer Kellnerin im Dirty Dog , einer billigen Bar außerhalb der Stadt, angefangen.
Offenbar hatte diese Frau einen sehr eifersüchtigen Mann gehabt, einen Motorradfahrer namens Calvin Waters. Als er eines Nachts betrunken früher nach Hause kam, erwischte er die beiden zusammen und erschoss die beiden mit einem Jagdgewehr, bevor er den Lauf gegen sich selbst richtete.
Der Skandal beschäftigte ganz Hope’s Crossing. Sie konnte sich noch immer an diese schrecklichen Tage erinnern, wie sie angestarrt wurde und wie die Leute hinter ihrem Rücken tuschelten und wie sie nicht wusste, wohin mit ihrer Wut und Scham – oder der Trauer um ihre verlorene kindliche Unschuld.
Claire und ihr Bruder standen die erste schwierige Zeit mithilfe weniger guter Freunde irgendwie durch.
Ruth hingegen brach vollkommen zusammen. Mehrere Monate lag sie einfach nur im Bett, süchtig nach Alkohol und dem Valium, das der Arzt ihr verordnet hatte.
Da ihr gar nichts anders übrig blieb, übernahm Claire die Hausarbeit, wusch die Wäsche, kochte das Mittagessen für ihren jüngeren Bruder, brachte ihn zur Schule und beaufsichtigte seineHausaufgaben. Sie tröstete ihn, wenn er nach ihrer Mutter rief, die zu tief in dem Schmerz und der Demütigung vergraben war, um zu begreifen, dass ihre Kinder sie brauchten.
Die Verantwortung zu übernehmen war Claires Art gewesen, mit dem Schmerz umzugehen, das wusste sie heute.
Sie probierte die Suppe, in der Hoffnung, dass der herrlich cremige Geschmack die bitteren Erinnerungen vertrieb. Ruth hatte sechs Monate in diesem Zustand verbracht, bis Mary Ella und Katherine sie eines Tages zwangen, sich ihren Problemen zu stellen.
Mit Mut und Stärke kämpfte Ruth
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