Zauber der Vergangenheit
wollte beim besten Willen keine einfallen. Dann kam mir plötzlich die Erleuchtung. Der Ring! Es musste etwas mit dem Ring zu tun haben. Ich fühlte ihn kalt und glatt an meinem Finger. Er war also noch da. Ich schloss noch einmal die Augen und wünschte mir inständig, nach Hause zurückzukehren, doch als ich sie wieder öffnete, hatte sich nichts verändert. Ich saß immer noch im Büro eines dreihundert Jahre alten Mannes. Die ganze Zeit über hatte er mich beobachtet. Als er versuchte, nach meiner Hand zu greifen, zuckte ich instinktiv zurück.
»Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte er beruhigend. »Ich habe nicht vor, Ihnen etwas zu tun. Ich finde nur, dass es bequemere Sitzmöglichkeiten in diesem Raum gibt als den Fußboden. Vielleicht möchten Sie sich zu mir setzen?«
Er schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln und streckte mir seine Hand entgegen. Ich zögerte. War es ein Trick? Nach einigem Abwägen entschied ich, dass mir wohl vorerst keine Gefahr von ihm drohen würde, und gab ihm vorsichtig meine Hand. Die Berührung seiner Finger fühlte sich erstaunlicherweise warm und vertraut an. Als er sich erhob und mich dabei mit auf die Beine zog, drehte sich alles in meinem Kopf. Ich schwankte noch ein wenig, während er mich umsichtig zu seinem Schreibtisch führte und mich auf einem der gepolsterten Stühle platzierte, die im Halbkreis davorstanden.
»Ich muss mich für Emilias Verhalten entschuldigen«, sagte er. »Sie ist in letzter Zeit etwas eigenartig.«
Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. An der Stelle, an der Emilia mich gepackt hatte, hatten sich bereits erste Blutergüsse gebildet. Er setzte sich mir gegenüber auf die andere Seite des Tisches und sah mich forschend an. Offensichtlich wartete er darauf, dass ich etwas sagte. Ich war jedoch nicht dazu fähig, auch nur einen einzigen Ton herauszubringen. Stattdessen starrte ich ihn nur an und stellte mir vor, wie er wohl mit einem Paar großer, weißer Flügel aussehen würde. Da ich also keine Anstalten machte, das Gespräch zu eröffnen, stellte er mir die erste Frage.
»Darf ich fragen, mit wem ich die Ehre habe?«
»Mein Name ist Violet Harrison«, antwortete ich leicht erstickt.
Meine Stimme bahnte sich nur langsam ihren Weg aus meinem Mund Seine Augen weiteten sich und er musterte mich einmal von Kopf bis Fuß. Waren sie tatsächlich so blau, oder trug er Kontaktlinsen? Aber die hatte man doch noch gar nicht erfunden …
»Und, sind Sie eine Hexe, Miss Violet?«, fragte er weiter.
Dabei lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und strich gedankenverloren die Härchen an seiner Schreibfeder glatt. Ich versuchte meine Gedanken zu sortieren und riss mich widerwillig von seinem Anblick los.
»Nein«, antwortete ich. »Das ist doch auch völlig lächerlich.«
»Das denke ich mir auch.« Er betrachtete beiläufig seine Schreibfeder, während er sprach. »Sie sehen auch gar nicht wie eine Hexe aus.«
Ich atmete innerlich auf und schenkte ihm ein dankbares Lächeln.
»Hexen verstecken ihr dämonisches Wesen in der Regel hinter einem besonders hübschen Gesicht und einer anmutigen Erscheinung«, fuhr er fort.
Ich brauchte einige Sekunden, bis ich realisierte, was er da gerade gesagt hatte. Unweigerlich erwachte ich aus meinem Traum von Engeln und Kornblumenaugen. Ich konnte es nicht fassen. Er besaß tatsächlich die Frechheit, mich zu beleidigen. Und das, obwohl er mich gerade einmal fünf Minuten kannte. Er war also doch ein Depp.
»Ich frage mich nur, wie Emilia dann auf diese Idee gekommen ist. Für gewöhnlich hat sie in solchen Dingen ein untrügliches Gespür. Können Sie sich das vielleicht erklären, Miss Violet?«, fuhr er unbeirrt fort und überging dabei meinen entsetzten Gesichtsausdruck.
Das konnte ich sehr wohl. Aber wie sollte ich etwas erklären, dass ich selbst nicht verstand? Ich suchte nach einer halbwegs schlüssigen Erklärung, doch es wollte mir beim besten Willen keine einfallen. Vielleicht half es, wenn ich mich einfach dumm stellte.
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich.
Er sah mich durchdringend an. So langsam verlor ich die Geduld. Ich wollte endlich wissen, was das alles hier zu bedeuten hatte.
»Was soll das ganze Theater hier eigentlich?«, fragte ich ungehalten.
Er beobachtete mich interessiert.
»Ich bewundere Ihr Temperament, Miss Violet. Ich mag Frauen, die sich nicht scheuen, ihre Emotionen zu offenbaren. Das ist wirklich erfrischend. Aber, sagen Sie, sind wir uns vielleicht schon einmal
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