Zauber der Vergangenheit
stieg zu mir in die Kabine.
KAPITEL 10
MASKENBALL
Das Haus von Joshua Scott stand auf einer Anhöhe und war dreimal so groß wie das von Tante Batty. Es wirkte sehr imposant und erstreckte sich ein großes Stück am Flussufer entlang. Die Auffahrt war mit leuchtenden Fackeln gesäumt.
Unsere Kutsche hielt ein paar Meter vom Eingang entfernt. Ein Bediensteter öffnete uns die Tür. Anthony stieg als Erster aus und reichte mir dann seine Hand, um mir beim Aussteigen zu helfen. Ich trat hinaus in die kühle Nachtluft. Während Anthony die Fahrt bezahlte, sah ich mich ehrfürchtig um. Das Wetter hatte aufgeklart und über mir funkelten abertausende Sterne am pechschwarzen Nachthimmel. Es war wie im Märchen. So musste sich Aschenputtel auf ihrem Weg zum Ball gefühlt haben. Doch ich war nicht nur zum Vergnügen hier. Ich hatte eine Aufgabe und der würde ich mich auch ohne Drews Hilfe stellen. Gemeinsam mit Anthony machte ich mich auf den Weg zum Haus. Die Vordertür wurde von zwei Dienern bewacht.
»Wen darf ich anmelden?«, fragte der eine von ihnen.
»Den Herzog von Colesbury und seine bezaubernde Begleitung Miss Violet Harrison«, antwortete Anthony und strahlte mich an.
»Bitte treten Sie ein, Eure Lordschaft«, sagte der andere und machte eine knappe Verbeugung. Im Inneren des Hauses erwartete uns ein weiterer Diener, der uns eine Treppe hinaufführte, die mit einem roten Samtteppich ausgelegt war. Überall hingen riesige Gemälde, die offenbar die Mitglieder der Familie Scott zeigten. Mir drängte sich der Gedanke auf, dass ich diese Gesichtszüge schon einmal irgendwo gesehen hatte. Aber das konnte natürlich auch am schummrigen Licht liegen.
Oben angekommen, reihten wir uns in eine Schlange von Leuten ein. Sie wurden nacheinander nach ihrem Namen gefragt und dann durch eine männliche Stimme, deren Besitzer ich nicht sehen konnte, angekündigt. Erst dann erhielten sie Einlass. Ich wurde etwas nervös. Anthony schien es zu bemerken und drückte sanft meine Hand. »Bereit?«, fragte er und bot mir seinen Arm an. Ich atmete einmal tief durch und hakte mich bei ihm ein. »Ja!«, antwortete ich und setzte meine Maske auf.
Es war ein überwältigender Anblick, als die große doppelflügelige Tür für uns aufschwang und wir den Raum über die Galerie betraten. Der Raum war beinahe so groß wie ein Fußballfeld und mit schwarz-weißem Marmorboden ausgelegt. Die Wände waren reich mit goldenen Ornamenten verziert. Riesige Kristallleuchter hingen von der Decke, die im Kerzenlicht funkelten. Eine lange, marmorne Treppe führte hinunter auf die Tanzfläche, wo sich hunderte von Menschen in extravaganten Kostümen tummelten. Und dann wurden unsere Namen genannt und all diese Augenpaare richteten sich auf uns. Ich verstärkte meinen Griff um Anthonys Arm und schritt mit ihm die Stufen hinab. Am Fuß der Treppe entdeckte ich Drew. Er starrte zu mir hinauf. Neben ihm stand Lilian, die gerade damit beschäftigt war, sein Halstuch zu richten und ihn anzuhimmeln. Er schien es jedoch gar nicht zu bemerken. Mir versetzte es dennoch einen tiefen Stich ins Herz. Ich würdigte ihn keines weiteren Blickes, als wir am Ende der Treppe ankamen und uns einen Weg durch die Menge bahnten.
»Ich hole uns schnell etwas zu trinken«, sagte Anthony. »Rühr dich nicht vom Fleck.« Und schon war er verschwunden. Ich lehnte mich gegen eine Säule und beobachtete die Menge. Ein kleines Grüppchen von Frauen hatte sich ganz in der Nähe um einen untersetzten, kahlköpfigen Mann geschart. Er wirkte ein wenig überfordert, ob der ganzen Aufmerksamkeit. Sie alle schienen ihm schöne Augen machen zu wollen. Wie die Hühner, dachte ich. Dabei war der Mann, um den sie sich stritten, noch nicht einmal hübsch. Wahrscheinlich schwamm er aber im Geld. Ich erinnerte mich, dass es zu dieser Zeit das höchste Bestreben der Frauen gewesen war, so schnell wie möglich vorteilhaft zu heiraten. Trotzdem hätte ich mich selbst dann niemals unter Wert verkauft. Ich war so vertieft in meine Beobachtung, dass ich nicht bemerkte, wie Lilian sich zu mir gesellte.
»Ein armseliges Schauspiel«, bemerkte sie beiläufig.
»Was willst du hier?«, fragte ich ungehalten. Ich hatte keine Lust mich mit ihr zu unterhalten.
»Ich muss mit dir reden«, sagte sie kleinlaut, darum bemüht unsere Auseinandersetzung möglichst unauffällig zu gestalten.
»Den Satz höre ich in letzter Zeit häufiger. Reden scheint hier so eine Art Allheilmittel zu sein. Aber weißt du
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