Zauber der Vergangenheit
eine Art Geheimversteck«, stellte ich fest.
»Die Leute kommen hierher, um sich eine Auszeit zu gönnen. Sie wollen für ein paar Stunden in eine surreale Welt eintauchen, um ihre Alltagsprobleme zu vergessen. Genau betrachtet hast du also gar nicht so Unrecht. Es ist eine Art Versteck vor dem Leben.«
»Wirklich sehr philosophisch«, gab ich ein wenig sarkastisch zurück. Anthony zog nur eine Augenbraue hoch und bedeutete mir dann ihm zu folgen. Die Tür stand offen. Drinnen war es warm und stickig. Es roch stark nach Puder und Parfüm. Ich bekam nur schwer Luft. Von weitem erklangen Stimmen. Offensichtlich fand gerade eine Probe statt. Durch einen kleinen, engen Flur gelangten wir in einen großen Saal, in dem ordentlich aufgereiht unzählige Stühle standen. Anthony nahm in einer der hinteren Reihen Platz. Sein Blick war auf die Bühne gerichtet. Ich setzte mich stumm neben ihn. Ein Stück weiter vorne konnte ich nun auch einige Personen erkennen, die in bunten Kostümen über die Bretter schwirrten, die ja angeblich die Welt bedeuteten, und ihren Text zum Besten gaben. Na ja, oder es zumindest versuchten. Ein kleiner, hagerer Mann, der am Rande der Bühne stand, schien Schwierigkeiten mit seinem Part zu haben. Immer wieder nahm er sein Blatt genau unter die Lupe.
»Gironimo, du bist an der Reihe«, forderte ihn eine untersetzte Frau in einem Violeten Kleid auf. Der Mann stieg ein wenig unsicher zu ihr hinauf auf die Bühne.
»Na, was ist denn?«, drängte sie. Gironimo antwortete nicht, sondern sah sie nur ein wenig verzweifelt und entschuldigend an. Sie seufzte hörbar.
»Ich sage es dir nur ungern, Gironimo, aber so werden wir das Stück nie auf die Bühne bekommen.« Er sah schweigend zu Boden. Ich fragte mich, warum er nichts sagte.
»Ich vermute mal, er kann nicht lesen«, flüsterte Anthony. Ich sah ihn verwirrt an. Manchmal hatte ich doch den Verdacht, dass er Gedanken lesen konnte.
»Meinst du?« Ich beäugte Gironimo kritisch aus der Entfernung.
»Das wäre zumindest nicht ungewöhnlich. Nur jeder Dritte kann zu dieser Zeit lesen und schreiben«, antwortete Anthony. »Wir sollten ihn vielleicht von seinem Unglück erlösen«, schlug er vor und erhob sich, geräuschvoll den Stuhl nach hinten schiebend. Augenblicklich gingen alle Blicke in unsere Richtung. Gironimo schien tatsächlich dankbar für die Unterbrechung.
»Mir war nicht bewusst, dass wir Gäste haben«, sagte die Frau im Violeten Kleid und stützte ihre Hände in die Taille.
»Wir wollten Sie nicht stören«, entschuldigte sich Anthony und ging auf sie zu. Ihre Miene erhellte sich, als sie mich hinter ihm auftauchen sah.
»Sie müssen Mr Clark und Miss Harrison sein«, flötete sie. Ich war ein wenig überrascht. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie die Nachricht von Mrs Conners bereits erhalten hatte. Der Eilbote musste seinem Namen in diesem Fall tatsächlich alle Ehre gemacht haben.
»Mit den besten Wünschen von Mr Conners«, sagte Anthony mit einem Lächeln und verbeugte sich knapp.
»Lassen Sie doch die Förmlichkeiten, junger Mann. Sagen Sie mir lieber, was halten Sie von unserem Arrangement?«, fragte sie aufgeregt und machte eine ausladende Bewegung. Auf der Bühne war die Kulisse eines Schlosses zu sehen und auf einem Tisch lagen ein paar Requisiten: ein Dolch, ein Umhang, eine Krone sowie diverse Tücher und Hüte. Das sah schwer nach Shakespeare aus.
»Ein wirklich ausgesprochen schönes Schauspielhaus«, antwortete Anthony. »Darf man fragen, was heute Abend gegeben wird?«
»Hamlet«, sagte ich, ohne darüber nachzudenken. Beider Augen richteten sich auf mich.
»Fürwahr«, entgegnete Mrs Fellows überrascht. »Wie kamen Sie darauf, Miss VioletHarrison?«
»Oh, äh … ich habe das Stück schon einmal gesehen«, erklärte ich hastig.
»Na dann können Sie uns sicher helfen. Wir streiten uns schon seit Tagen, wie es richtig heißen muss. Unser Polonius hier kann sich nämlich einfach seinen Text nicht merken«, bemerkte sie mit einem provozierenden Seitenblick auf den armen Gironimo, der nun wieder am Rand der Bühne saß und uns beobachtete. »Vielleicht erinnern Sie sich an die Zeile: › Den Freund, der dein, und dessen Wahl erprobt, … ‹
»… Mit ehrnen Haken klammr ihn an dein Herz. Doch schwäche deine Hand nicht durch Begrüßung von jedem neugeheckten Bruder. «, führte ich das Zitat zu Ende und sah dabei Anthony an. Er schien beeindruckt. Ich war selbst auch ein bisschen erstaunt, dass ich den
Weitere Kostenlose Bücher