Zauber der Versuchung: Roman (German Edition)
nach ihrer Heirat bei mehreren Gelegenheiten. Sie war ein schüchternes kleines Ding und ziemlich unbeholfen. Dauernd fiel sie die Kutschenstufen herunter, absurde kleine Unfälle eben. Unbedeutende Unfälle eigentlich, es sei denn, man betrachtete sie alle zusammengenommen. Und es war ebenfalls ein Unfall, bei dem sie ums Leben kam.« Sie blickte Judith in die Augen. »Ihr Gatte war ein brutaler Mann. Ich kannte ihn nicht persönlich, aber ich hörte von ihm. Niemand, mit Ausnahme seiner Kinder vielleicht, trauerte um ihn, als er starb.«
Judith hatte Mühe, die Fassung zu wahren. »Ich liebte meinen Mann, und er liebte mich.«
»Und jetzt liebt Gideon Sie und Sie lieben ihn.«
»Ist Ihnen je der Gedanke gekommen, Louisa, dass nicht er mich verletzen könnte, sondern ich ihn?«
Louisa sah sie eine Weile nachdenklich an, dann lächelte sie. »Nein.« Sie stand auf. »Aber er ist im Moment sehr verletzt.«
Judith erhob sich ebenfalls. »Das habe ich nie gewollt.«
»Dann gehen Sie zu ihm, Judith, und sagen Sie ihm, wie Sie empfinden. Um Gottes willen, heiraten Sie den Mann! Es sei denn...« Louisa legte eine dramatische Pause ein. »Es sei denn ich irre mich. Sie lieben ihn doch, oder nicht?«
»Nein, tue ich nicht«, erwiderte Judith schnell, aber nicht schnell genug.
»Wusste ich es doch. Ich irre mich nie.«
Judith stieß einen empörten Laut aus, den Louisa ignorierte.
»Sie lügen nicht besonders gut, meine Liebe. Daran sollten wir noch arbeiten. Man sollte niemals zu ehrlich zu Männern sein, vor allem nicht zu Ehemännern. Wenn Sie und Gideon erst verheiratet sind...«
»Ich werde Lord Warton nicht heiraten«, protestierte Judith und starrte Gideons Tante verärgert an. »Warum wollen Sie mir nicht glauben?«
»Weil mir kürzlich erklärt wurde, dass nichts im Leben wichtiger ist, als glücklich zu sein.« Louisa lächelte zufrieden. »Ich beabsichtige, meinen Neffen glücklich zu sehen. Und Sie machen ihn glücklich. Falls Sie darüber hinaus auch noch glücklich sein sollten, werde ich nicht direkt glücklich, aber immerhin zufrieden sein.«
»Ihnen ist hoffentlich bewusst, dass er mir gegenüber nie von Liebe gesprochen hat, geschweige denn mich bat, ihn zu heiraten.«
»Ach, Nebensächlichkeiten«, tat Louisa es ab. »Männer sind gewöhnlich nicht die Schnellsten, wenn es um Liebesgeständnisse oder Heiratsanträge geht. Aber ich sage Ihnen, er wird.«
»Ich reise nach Südamerika«, entgegnete Judith bestimmt.
»Das bezweifle ich. Falls Sie allerdings doch reisen«, sagte Louisa lächelnd, »möchte ich wetten, dass Sie nicht allein sein werden. Wussten Sie, dass Gideon als kleiner Junge Forscher werden wollte?« Sie kicherte. »Er wird den Urwald lieben!«
»Er würde den Urwald hassen!«, widersprach Judith.
»Er wird ihn lieben, weil Sie dort sind.« Louisa ging erstaunlich geschickt um die Kisten und Truhen herum zur Tür. »Sie sollten wissen, dass ich mir nicht zu schade bin, mich in anderer Leute Leben einzumischen. Genau genommen genieße ich es.« Sie warf Judith ein triumphierendes Lächeln zu. »Willkommen in der Familie. Guten Tag.«
»Guten Tag«, murmelte Judith und sank gegen die Rückenlehne ihres Sessels.
Gideon liebte sie? Sie hatte es vermutet, vielleicht sogar gehofft, aber es zu wissen, machte alles nur noch schlimmer. Sie liebte ihn, er liebte sie, und doch änderte es nichts. Sie hatte schon einen Mann enttäuscht, den sie zu lieben glaubte, und sie würde nicht den einen enttäuschen, den sie wirklich liebte. Falls Louisa recht hatte, falls Gideon sie liebte, war das umso mehr Grund, aus seinem Leben zu verschwinden – und den Rest ihrer Tage allein zu verbringen.
Nein. Eine plötzliche Entschlossenheit packte sie, und sie sprang auf. Sie war ihr einsames Leben leid, und sie weigerte sich, so weiterzumachen.
Es gab nur einen einzigen Menschen auf der Welt, der noch einsamer war als sie.
Chester House rief in Judith immer wieder ein Gefühl tiefen Unbehagens hervor. Selbst an strahlenden Sonnentagen wirkte das Haus düster, und die Schatten darin zogen sich endlos in die Länge. Während der Jahre, die sie hier lebte, hatte sie es nie als ein Heim empfunden. Damals fragte sie sich manchmal, ob in dem Haus womöglich unsichtbare Wesen aus einer anderen Sphäre herumspukten.
»Was machst du denn hier?«, fragte Alexandra, die vorsichtig in den Salon kam.
»Ich bin hergekommen, um dich zu sehen«, sagte Judith lächelnd. »Meine liebe
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