Zauber der Versuchung: Roman (German Edition)
wirken. Die vage Andeutung eines zufriedenen Lächelns umspielte seine Mundwinkel, als wüsste er, dass sie ihn ansah. Judith wandte sich rasch wieder dem Poeten zu und ärgerte sich, weil sie merklich errötete. Gütiger Himmel! Sie erinnerte sich nicht, wann ihr das zum letzten Mal passiert war. Im reifen Alter von dreißig Jahren sollte sie eigentlich gefeit dagegen sein. Erröten bedeutete, dass man die Kontrolle verlor, was ihr überaus selten widerfuhr. Ihre Stellung als verwitwete Baroness, ihr Vermögen und ihr angeborenes Selbstwertgefühl sorgten dafür, dass sie sich selten, und wenn überhaupt, dann sicher nie freiwillig, der Gnade von jemand anderem auslieferte. Indem sie vor Lord Warton errötete, billigte sie ihm einen Einfluss zu, mit dem sie schwerlich umgehen konnte. Das war äußerst ärgerlich.
Schuld war natürlich der arrogante, selbstzufriedene, unleugbar attraktive Viscount Warton.
Unweigerlich musste Judith ihrerseits lächeln, denn diese Geschichte ließ sich recht aufregend an und würde es wohl mit jedem Schritt, den sie aufeinander zu taten, mehr. Ja, beinahe drängte sich der Verdacht auf, dass gerade ein ärgerlicher Mann ein umso unwiderstehlicherer war. Dieser Gedanke war Judith neu. Andererseits war sie auch noch nie jemandem wie Lord Warton begegnet. Obgleich es vieles an ihm gab, was sie erst noch entdecken müsste, wusste sie doch schon heute, dass er ihr durchaus ebenbürtig war. Auch das war ungewöhnlich. Nicht dass die Männer, die sie sich in der Vergangenheit erwählt hatte, ihr etwa unterlegen gewesen wären. Allerdings hatte sie bei ihren vorherigen Abenteuern stets das Sagen gehabt. Lord Warton hingegen schien nicht der Mann zu sein, der sich von irgendjemandem etwas sagen ließ. Er war nun einmal hartnäckig, arrogant und amüsant. Oh, das versprach sehr interessant zu werden. Möge das Abenteuer beginnen.
Zweites Kapitel
Lord Warton war enervierend pünktlich, womit sie allerdings auch gerechnet hatte. In dieser Minute saß er in ihrem Salon und wartete auf sie, obwohl es entschieden zu früh war, um ihn zu empfangen.
Judith blickte zur Uhr auf dem Damensekretär ihres Ankleidezimmers. Noch sieben Minuten, dann wäre exakt eine Viertelstunde seit seiner Ankunft vergangen und somit die ideale Wartezeit für einen Gentleman verstrichen, der einer Dame seine Aufwartung machte. Weniger würde sie zu erfreut über seinen Besuch erscheinen lassen, mehr wäre, nun ja, ungehörig.
Sie atmete tief durch und betrachtete sich noch einmal im Spiegel. Und ein weiteres Mal stellte sie fest, dass sie tadellos aussah, zumindest im Hinblick auf die Aspekte ihres Aussehens, über die sie die Kontrolle besaß. Kein einziges blondes Haar war am falschen Platz, das Kleid, das sie sehr sorgfältig ausgewählt hatte, wies keine einzige Knitterfalte auf und war nirgends verrutscht, seit sie es in einem Anflug modischer Rebellion überstreifte. Weder zeigte es, was sie nicht zeigen wollte, noch – Gott behüte – verbarg es, was sie nicht verbergen wollte. An einem Abend wie dem, der ihr heute bevorstand, war das, was sie enthüllte, nicht minder ausschlaggebend als die Zeit, die sie ihren Herrenbesuch warten ließ. Verhüllte ein Kleid zu viel von dem, was eine Dame zu bieten hatte, so signalisierte die Betreffende damit, sie wäre lediglich an einem Abendessen interessiert und sonst nichts. Zu viel Freizügigkeit hingegen vermittelte den Eindruck, sie wäre nicht bloß willig, sondern trüge sich nachgerade mit der Absicht, über das Essen hinaus mit dem Herrn zusammenzubleiben. Ganz gleich jedoch, wie ihre tatsächlichen Pläne in Bezug auf den fraglichen Gentleman aussehen mochten, würde Judith zwar zulassen, dass er ein gewisses Maß an Enthusiasmus wahrnahm, aber Absicht? Sie erschauderte. Das wäre alles andere als anständig. Judith wurde bewusst, wie absurd dieser Gedanke war, und sie schmunzelte ihrem Spiegelbild zu. Anständig? Es war überhaupt nichts Anständiges daran, einen Herrn mit der festen – wenn auch unausgesprochenen – Absicht zu sich nach Hause zum Abendessen einzuladen, ihn kurz nach dem Dessert ins Schlafzimmer zu führen. Oder möglicherweise vor dem Dessert? Nun, das könnte sehr wohl ans Unanständige grenzen, wäre aber im Grunde nicht dramatisch.
Wie dem auch sei, es gab bestimmte Regeln, an die Judith sich hielt, und die legten ebenfalls fest, was an einem Abend wie dem bevorstehenden angemessen war und was nicht. Gewiss fänden jene Damen der
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