Zauber der Versuchung: Roman (German Edition)
englischen Gesellschaft, die blind die Vorschriften befolgten, wie sie Ihre Majestät vorgab, rein gar nichts Anständiges an einer alleinstehenden Frau, verwitwet oder nicht, die einen gut aussehenden, begehrenswerten Junggesellen allein bei sich Hause empfing. Judith indes war der Auffassung, sie hätte sich als junge Dame stets so verhalten, wie man es von einer gebildeten und wohlhabenden jungen Frau erwartete, und damit hinlänglich Normen befolgt, die sie weder festlegte noch einsah. Sie hatte ziemlich rechtschaffen und respektabel geheiratet, obschon sowohl sie als auch ihr Gatte ein bisschen jung gewesen waren, aber immerhin war er ein Herr aus gutem Hause und vermögend, und sie hatte gedacht, er wäre die Liebe ihres Lebens. Doch er war gestorben, und da sie nun einmal nicht tot war, sah sie keinen Grund, weshalb sie den Rest ihrer Tage so verbringen sollte, als wäre sie es.
Was würde Lucian denken, wenn er mich jetzt sehen könnte?
Das Lächeln im Spiegel wurde ein klein wenig schwächer. Nicht zum ersten Mal in den zehn Jahren seit seinem Tod kam ihr dieser Gedanke. Gewöhnlich tauchte er ungebeten auf, so wie heute Abend, und die Antwort fiel jedes Mal gleich aus. Ihr Ehemann würde womöglich lachen, auf jene unbeschwerte, vergnügte Art, von der ihr gemeinsames Leben zumeist geprägt gewesen war. Möglicherweise hätte Lucian gut geheißen, was sie tat, und sie ermuntert, ihr Leben so auszukosten, wie er es getan hatte. Oder aber er wäre sehr nachdenklich geworden. Bisweilen war Judiths verstorbener Mann sehr nachdenklich geworden, konnte sogar trübsinnig erscheinen, sofern man nicht wusste, dass seine melancholischen Stimmungen unmittelbar mit seiner Genialität zusammenhingen. Wann immer ihn seine Melancholie überkam, zog er sich in die Bibliothek zurück, wo er Gedichte verfasste, die Judith damals allesamt brillant fand und womöglich immer noch fände, nur hatte sie seine Verse seit Jahren nicht mehr gelesen. Manchmal jedoch wurde er auch plötzlich ganz furchtbar wütend, tobte vor Eifersucht, die grundlos und umso erschreckender war, als sie selten und stets gänzlich unvermittelt ausbrach. In solchen Momenten schimpfte er sie eine Hure und zeigte ihr, was Männer mit Frauen wie ihr taten.
Mit einem Kopfschütteln vertrieb sie die Erinnerung. Das alles war sehr lange her und kaum wert, dass sie ausgerechnet jetzt darüber nachdachte. Außerdem hatte sie in den drei Jahren ihrer Ehe gerade mal eine Handvoll solcher Ausbrüche erlebt. Weit häufiger hatte Lucian gelacht und sein Leben so hingebungsvoll genossen, wie sie es weder vorher noch nachher gesehen hatte. Nein, dachte sie mit derselben Entschlossenheit wie immer, wenn sich diese Erinnerungen aufdrängten, Lucian hätte gelacht und wäre vollkommen einverstanden damit, wie sie lebte. Es war sinnlos, etwas anderes zu vermuten, und vor allem war es sinnlos, jetzt an ihn zu denken. Sie sollte sich lieber auf den reizvollen Lord Warton konzentrieren.
Und was dachte er, wenn er sie heute Abend sah?
Auf diese Frage hin rümpfte sie die Nase – eine Nase, die etwas zu kantig war, um als niedlich zu gelten, aber auf keinen Fall hässlich. Noch dazu saß sie inmitten eines sehr ebenmäßigen Gesichts mit angemessen weit auseinanderstehenden blauen Augen und einer zarten Wangenröte, die nur ganz leicht von etwas Puder betont wurde. Bisher waren ihre Züge gemeinhin als ziemlich hübsch beschrieben worden, ja, sie wurde gelegentlich sogar als der Inbegriff englischer Schönheit bezeichnet. Und wenn sie ihr Spiegelbild betrachtete, hatte sich kaum etwas verändert. Sie kam allerdings nicht umhin, sich zu fragen, wie lange es noch dauern würde, bis hübsch zu gut aussehend wurde und schließlich zu ›man würde es nicht glauben, wenn man sie so sieht, aber in ihrer Jugend galt sie als eine echte Schönheit‹. Der Tag würde kommen, an dem sie in den Spiegel blickte und eine, zwei oder zwanzig Falten entdeckte. Dagegen ließ sich natürlich nichts machen. Das Altern musste man genauso akzeptieren wie alles andere, was im Leben unvermeidlich war: mit einer wohldosierten Grazie und Humor. Zudem wurden interessante Frauen mit dem Alter noch interessanter. Und Judith war zwar bereits als Kind hübsch gewesen, aber erst mit zunehmender Reife und Erfahrung interessant geworden, eine Eigenschaft, die sie für weit wertvoller erachtete als ihr Aussehen. Nichtsdestotrotz wäre es schön, könnte sie sich ihre attraktive Erscheinung ebenso erhalten
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