Zauber der Versuchung: Roman (German Edition)
wie ihre interessante Persönlichkeit.
Das stand und fiel natürlich mit ihrer Figur, mit der sie noch nie sonderlich zufrieden gewesen war. Für ihren Geschmack war sie viel zu klein und ihr Busen viel zu groß. Aber ihre Taille war schmal, ihr Hals ebenfalls und ihre Haut makellos. Alles in allem hielt sie sich also recht gut. Noch zumindest.
Würde er das auch denken?
Es war eigentlich albern, sich wegen heute Abend irgendwelche Sorgen zu machen. Oder war es die Vorfreude, die ihren Magen flattern ließ? Sie hatte Lord Warton seit der Gesellschaft bei Susanna nicht mehr gesehen, und die lag volle fünf Tage zurück. Seither hatte sie es nicht direkt auf ein Wiedersehen angelegt, sich jedoch auch nicht absichtlich rar gemacht. Am Abend nach ihrer Begegnung bei Susanna war sie zum Dinner bei Mrs Windham gewesen, das man als eine kleine Privatveranstaltung ansehen könnte, wären dort nicht zweihundert der engsten Freunde ihrer Gastgeberin geladen gewesen. Tags drauf folgte eine Einladung zu dem Musikabend bei Lord und Lady Carlyle, wo die Darbietungen um einiges stilvoller waren als bei Susanna. Am Abend danach war sie mit ein paar Freunden im Theater gewesen, wo sie die sofort wieder vergessene Aufführung eines nicht erinnerungswürdigen Stückes sah. Wenigstens wirkte eine Schauspielerin mit, die Judith mochte, und allein dieser Umstand entschädigte doch für einiges. Zugegeben, einer der Gründe, weshalb sie sich nicht an Einzelheiten des Stückes erinnerte, mochte der sein, dass sie einen Großteil des Abends damit verbrachte, den Zuschauerraum unauffällig nach Seiner Lordschaft abzusuchen.
Um fair zu bleiben, sollte man jedoch nicht vergessen, dass sie diejenige war, die entschieden hatte, wann und wo sie gemeinsam zu Abend aßen. Daher durfte sie ihm also nicht die Schuld dafür geben, dass sie sich nicht gesehen hatten, auch wenn damit manch unangenehme Gedanken einhergegangen waren. War er nur halb so froh darüber, sie wiederzusehen, wie sie, ihn wiederzusehen? Man musste ihm lassen, dass er, obschon er nicht persönlich erschien, sich in der Zwischenzeit durchaus bemerkbar gemacht hatte. Am Tag nach dem Abend bei Susanna war ein Gedichtband von Keats mit einem kurzen Brief angekommen, in dem Seine Lordschaft die Hoffnung ausdrückte, dass ihr diese Gedichte besser gefallen würden als die bei Lady Dinsmore vorgetragenen. Zwei Tage später traf eine kleine Nachricht ein, nur ein paar Zeilen lang, in denen er schrieb, wie sehr er sich darauf freute, sie wiederzusehen. Sehr höflich, ganz und gar nicht unanständig, und doch erkannte sie in seinen Worten einen gewissen Unterton, bei dem sie wohlig erschauderte. Selbstverständlich konnte es ebenso gut sein, dass ihr Erschaudern weder mit seiner Wortwahl noch seinen Absichten zu tun hatte, dafür aber sehr viel mit ihren Plänen. Gestern waren zwei Dutzend Rosen geliefert worden, gelbe, was Judith in gewisser Weise überraschte. Sie hätte Lord Warton eher als den Rote-Rosen-Typ eingeschätzt, aber wahrscheinlich war es besser, wenn sie schnellstens alles vergaß, was sie zuvor über ihn gedacht hatte.
Keine Mutmaßungen mehr! Sie blickte in den Spiegel. Bis heute war nie irgendetwas zwischen ihnen gewesen, abgesehen von einem Moment auf einem Ball und einer Unterhaltung an einem Winterabend, und trotzdem bescherte der Mann ihr ein wildes Herzklopfen und die unsinnigsten Gedanken, die auf nichts als simplen Annahmen beruhten. Zudem hatten diese enervierenden Schmetterlinge – beziehungsweise Gänse – sich fest in ihrem Bauch eingenistet. Wie viel schlimmer konnte es da noch werden, wenn sie tatsächlich etwas mehr Zeit zusammen verbrachten? Wenn sie in seinen Armen lag. Oder... Sie lächelte versonnen. Wie viel besser?
Wieder sah sie zur Uhr. Es war Zeit. Zwar könnte sie ihn ohne Weiteres noch etwas länger warten lassen, doch damit würde sie ein Spiel beginnen, das sie nicht spielen wollte. Sie holte tief Luft. Obschon sie bislang recht offen miteinander umgingen, war unvermeidlich, dass auch sie einige Spielchen spielen würden.
Judith warf ihrem Spiegelbild ein selbstbewusstes Lächeln zu. Ihn warten zu lassen allerdings gehörte nicht zu den Spielen, die ihr vorschwebten.
Gideon widerstand dem Impuls, seine Uhr aus der Tasche zu ziehen und nachzuschauen, wie spät es war. Desgleichen weigerte er sich, zu der französischen Uhr auf dem Kaminsims zu sehen, obwohl der goldene Chronometer mit den Figuren und dem passenden Kerzenhalter daneben
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