Zauberschiffe 01 - Der Ring der Händler
Stattdessen jedoch fielen Althea die beiden unterschiedlichen Ohrringe auf. Sie trug mehrere in jedem Ohr, aber Althea achtete nur auf die gewundene Schlange aus glänzendem Holz in dem linken und den leuchtenden Drachen in ihrem rechten Ohr. Beide waren etwa daumenlang und so erstaunlich naturgetreu geschnitzt, dass sie fast erwartete, sie würden gleich zum Leben erwachen.
Althea bemerkte plötzlich, wie lange sie den Schmuck angestarrt hatte. Unwillkürlich sah sie Amber wieder in die Augen. Die Frau lächelte sie fragend an. Doch als Althea ihre Miene unbeweglich hielt, erlosch das Lächeln und wich einem verächtlichen Ausdruck. Diese Miene veränderte sich auch nicht, als sie ihre schlanke Hand auf ihren flachen Bauch legte.
Althea fühlte eine Kälte in ihrem Unterleib, als hätten diese behandschuhten Finger ihren eigenen Leib berührt. Sie sah noch einmal in Ambers Gesicht. Diese starrte Althea an wie ein Bogenschütze, der sein Ziel fixiert. Zwischen all den hastenden, geschäftigen Menschen schienen sie plötzlich allein, die Blicke miteinander verschränkt und völlig isoliert von der Menschenmenge. Mit einem beinahe körperlichen Kraftakt riss sich Althea wie von einer klammernden Hand los, drehte sich um und floh die Hafenanlage entlang, zurück zum Bingtown-Markt.
Sie drängte sich unbeholfen durch den gutbesuchten Sommermarkt, stieß gegen Leute und rammte einen Tisch mit Schals, als sie sich umdrehte und zurückblickte. Aber von Amber war nichts zu sehen. Sie ging zielstrebig weiter. Ihr Herzschlag beruhigte sich etwas, und sie merkte, wie sehr sie in der Nachmittagssonne schwitzte. Nach ihrer Begegnung mit dem Schiff und Amber war ihr Mund wie ausgetrocknet, und sie fühlte sich ziemlich mitgenommen. Das war albern, ja, geradezu lächerlich. Die Frau hatte nichts weiter getan, als sie anzusehen. Was war daran bedrohlich? Sie hatte noch nie zuvor unter solchen Phantasien gelitten. Wahrscheinlich lag das an dem Stress der letzten zwei Tage. Und außerdem konnte sie sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal eine ordentliche Mahlzeit verzehrt hatte. Wenn sie genauer darüber nachdachte, hatte sie seit dem vorgestrigen Tag außer ziemlich viel Bier nichts Nahrhaftes zu sich genommen.
Genau das war es, was ihr fehlte.
Sie fand einen freien Tisch in einem Teeladen in einer kleinen Straße und setzte sich. Wenigstens war sie jetzt nicht mehr der prallen Sonne ausgesetzt. Der Kellnerjunge kam an ihren Tisch. Sie bestellte Wein, geräucherten Fisch und Melone. Nachdem er gegangen war, fragte sie sich etwas spät, ob sie eigentlich genug Geld bei sich hatte, um die Rechnung zahlen zu können. Als sie sich heute Morgen angekleidet hatte, hatte sie daran nicht gedacht. Ihr Zimmer zu Hause war makellos sauber und aufgeräumt wie immer, wenn sie von einer Reise zurückkam. In einer Ecke ihrer Kommodenschublade hatten ein paar Scheine und Münzen herumgelegen, und sie hatte sie mehr aus Gewohnheit, denn aus einem anderen Grund eingesteckt. Selbst wenn das genügte, dieses Essen zu bezahlen, reichte es gewiss nicht, um sich ein Zimmer in einem Gasthof hier in der Nähe zu nehmen. Falls sie nicht kleinlaut wieder nach Hause gehen wollte, sollte sie wohl besser darüber nachdenken, wie sie überleben wollte.
Während sie noch grübelte, kam das Essen. Sie verlangte tollkühn nach Wachs und drückte ihren Siegelring in das Siegelwachs unter der Rechnung. Vermutlich war dies das letzte Mal, dass sie eine Rechnung zum Haus ihres Vaters schicken konnte. Hätte sie vorher daran gedacht, dann hätte sie Keffria eine vornehmere Mahlzeit zahlen lassen. Aber die Melone war saftig und frisch, der Fisch gut geräuchert, und der Wein war, nun ja, er war trinkbar. Sie hatte schon schlechter gegessen und würde zweifellos noch viel üblere Mahlzeiten zu sich nehmen.
Sie hatte gerade erst angefangen, sich durchzuschlagen, und mit der Zeit würde es sich wohl auch wieder bessern. Es musste einfach besser werden.
Als sie den Wein leerte, überkam sie plötzlich der Gedanke, dass ihr Vater tot war und es auch den Rest ihres Lebens bleiben würde. Dieser Teil ihres Lebens würde niemals wieder besser werden. Sie hatte sich beinahe an ihre Trauer gewöhnt, doch bei diesem neuerlichen Erleben ihres tiefen Verlustes wurden ihre Knie weich. Es war eine neue und schmerzliche Art, darüber nachzudenken. Ganz gleich, wie lange sie durchhielt, Ephron Vestrit würde nicht mehr nach Hause kommen und die Dinge richten. Niemand
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