Zauberschiffe 01 - Der Ring der Händler
solchen Gedanken los und betrachtete erneut die Stadt. Alles sah aus wie immer. Es ankerten nur ein paar Schiffe mehr im Hafen, und ein wenig mehr Menschen hasteten über die Straßen, aber das war zu erwarten. Bingtown wuchs, so wie es ihr ganzes Leben lang gewachsen war.
Erst als sie den Blick über die umliegenden Hügel schweifen ließ, erkannte sie, wieviel sich verändert hatte. Der Hammerschmied-Hügel hatte jetzt einen kahlen Gipfel, wo sonst so viele Eichen hoch und grün gestanden hatten. Sie blickte mit einer Art Scheu darauf. Sie hatte gehört, dass die Neuankömmlinge dort Land beansprucht hatten und Sklaven einsetzten, um es zu roden. Aber noch nie zuvor hatte sie einen Hügel gesehen, der so stark abgeholzt worden war. Die Hitze des Tages brannte gnadenlos auf den kahlen Hügel. Was noch grün geblieben war, sah versengt und hässlich aus.
Die Veränderung, die mit dem Hammerschmied-Hügel vorgegangen war, war zwar die schockierendste, aber es war längst nicht die einzige. Im Osten hatte jemand einen Platz auf einem Hügel gerodet und baute dort ein Haus. Es war nicht nur die Größe des Gebäudes, was sie erschütterte, sondern vor allem die Zahl der Arbeiter: Sie wimmelten wie weißgekleidete Ameisen in der Mittagshitze auf der Baustelle herum. Während sie zusah, wurde die hölzerne Pfahlkonstruktion für eine Wand errichtet und sicher verankert. Im Westen schnitt sich eine neue Straße pfeilgerade in die Hügel. Sie konnte zwischen den Bäumen nur Abschnitte davon erkennen, aber sie war breit und sehr belebt. Unbehagen beschlich sie. Vielleicht hatte Davad doch Recht gehabt, mehr, als sie gedacht hatte. Vielleicht waren die Veränderungen, die mit Bingtown passierten, tatsächlich einschneidender Natur. Und wenn er damit Recht gehabt hatte, dann waren vielleicht auch seine anderen Worte zutreffend, dass der einzige Weg, diese Welle von neuen Händlern zu überleben, der war, auf ihr mitzuschwimmen und sich anzupassen.
Ronica wandte sich von Bingtown und den unerfreulichen Gedanken ab. Jetzt hatte sie keine Zeit, darüber nachzudenken.
Sie hatte genug damit zu tun, mit ihren eigenen Katastrophen und Ängsten fertig zu werden. Bingtown würde selbst auf sich aufpassen müssen.
4. Divvytown
Kennit befeuchtete sein Tuch mit Zitronenöl und legte es über seinen Bart und seinen Schnurrbart. Er betrachtete sich in dem goldgerahmten Spiegel über seinem Waschbecken. Das Öl verlieh seinem Gesichtshaar einen zusätzlichen Glanz, aber es ging ihm gar nicht um diesen Effekt. Selbst der Duft des Öls reichte nicht, um den Gestank von Divvytown aus seiner Nase fernzuhalten. Wenn man in die Piratenstadt kommt, dachte er, ist das eher so, als würde man zum Hafen geschleppt, und zwar im Schwitzkasten eines nach Moschus und Schweiß stinkenden Sklaven.
Er verließ seine Kajüte und trat an Deck. Die Luft draußen war genauso schwül und feucht wie unter Deck, und der Gestank war noch durchdringender. Er sah angeekelt auf die nahenden Ufer von Divvytown. Der Zufluchtsort der Piraten war wohl ausgesucht. Um ihn zu finden, musste man nicht nur genau den Weg kennen, sondern auch noch ein vollendeter Meister in der Kunst sein, ein Schiff einen Flusslauf hinaufzulenken. Der klare Fluss, auf dem man zu dieser Lagune kam, wirkte kaum einladender als ein Dutzend andere, die sich durch die vielfältigen Inseln der Treibküste in das offene Meer schlängelten, aber dieser hatte einen tiefen, wenn auch sehr schmalen Kanal, durch den man ein Segelschiff navigieren konnte, und eine friedliche Lagune, die einem ankernden Schiff Schutz selbst vor den heftigsten Orkanen bot.
Früher einmal war es ein wunderschöner Ort gewesen. Keine moosigen Docks und Piere ragten von jedem Fleckchen festen Landes ins Wasser. Das üppige Grün, das die Flussböschung bedeckt und überwuchert hatte, war bis auf den Schlamm zurückgeschnitten worden. Es gab weder genug fließendes Wasser noch genügend Wind, um die Abwässer und den Rauch der Ansammlung von Hütten, Schuppen und Geschäften der Piratenstadt zu vertreiben. Irgendwann würden die Winterregen kommen und sowohl die Stadt als auch die Lagune kurzfristig sauberspülen. Doch an einem heißen Sommertag strahlte die Lagune von Divvytown-Hafen den Charme eines ungeleerten Nachttopfes aus.
Wenn man hier mehr als ein paar Tage am Stück ankerte, war das eine Einladung an Moos und Fäule, sich an der Hülle eines Schiffes festzusetzen; Wasser aus anderen als einigen ganz bestimmten
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