Zauberschiffe 01 - Der Ring der Händler
dir sage!«, knurrte Kyle. Althea sah, wie er die Hand drohend zum Schlag erhob, und hörte, wie Keffria aufschrie: »Nein, Kyle, nicht!«
Mit zwei Schritten stand Althea plötzlich zwischen Kyle und dem Jungen. »Das ist wohl kaum das passende Verhalten am Todestag meines Vaters. Und es ist auch nicht richtig, die Viviace so zu behandeln. Pflock oder nicht, sie erwacht. Willst du, dass sie zu streitenden Stimmen und Zwietracht erwacht?«
Kyles Antwort verriet, dass er überhaupt keine Ahnung hatte, was ein Zauberschiff war. »Ich werde es erwecken, ganz gleich, wie.«
Althea wollte schon eine wütende Antwort geben, doch dann hörte sie Brashens ehrfürchtiges Flüstern. »Oh, seht sie doch an!«
Alle Augen richteten sich auf die Galionsfigur. Vom Vordeck aus konnte Althea nicht viel von ihrem Gesicht sehen, aber sie erkannte, dass die Farbe von dem Hexenholz abblätterte. Die Locken ihres Haars glänzten rabenschwarz unter der abblätternden Goldfarbe, und die sandige Haut rötete sich allmählich. Die seidige feine Maserung des Hexenholzes jedoch blieb, und das würde sie auch immer tun. Und auch die Haut würde niemals so weich und nachgiebig werden wie menschliches Gewebe. Dennoch war unübersehbar, dass jetzt Leben durch die Galionsfigur pulsierte, und zu Altheas Begeisterung dümpelte das ganze Schiff jetzt auch anders in der leichten Dünung des Hafenbeckens. Sie fühlte sich, wie sich ihrer Vorstellung nach eine Mutter fühlen musste, wenn sie zum ersten Mal das Leben in Händen hält, das in ihr gewachsen ist.
»Gib mir den Pflock«, sagte sie ruhig. »Ich werde das Schiff erwecken.«
»Warum?«, fragte Kyle misstrauisch, aber Ronica schaltete sich ein.
»Gib ihr den Pflock, Kyle«, befahl sie. »Sie wird es tun, weil sie die Viviace liebt.«
Später sollte sich Althea an die Worte ihrer Mutter erinnern, und sie würden den Ärger in ihr in weißglühende Wut verwandeln. Ihre Mutter hatte gewusst, was sie fühlte, und dennoch hatte sie ihr das Schiff weggenommen. Aber in dem Moment wusste sie nur, dass es sie schmerzte, die Viviace zwischen Holz und Leben so unangenehm gefangen zu sehen.
Sie konnte das Misstrauen auf Kyles Miene sehen, als er ihr widerstrebend den Pflock reichte. Was glaubte er, würde sie damit tun? Ihn über Bord werfen? Sie nahm ihn und schob sich auf das Bugspriet, um den Kopf der Figur zu erreichen. Sie war ein wenig zu klein, um sicher hinzugelangen. Sie kroch noch ein Stück weiter und wankte gefährlich in ihren hinderlichen Röcken, aber sie reichte immer noch nicht ganz heran.
»Brashen«, sagte sie. Es war weder eine Bitte noch ein Befehl.
Sie sah nicht einmal zu ihm zurück, sondern blieb einfach, wo sie war, bis sie seine Hände unmittelbar über ihren Hüften fühlte.
Er ließ sie vorsichtig herunter, bis sie eine Hand auf dem Haar der Viviace abstützen konnte. Die Farbe blätterte unter ihrer Berührung ab. Das Gefühl des Haares unter ihrer Hand war merkwürdig. Es gab nach, aber die geschnitzten Locken wirkten eher wie ein einziges Stück denn wie einzelne Haare. Einen Moment war ihr unbehaglich zumute. Dann jedoch durchströmte sie das Bewusstsein der Viviace , so stark wie nie zuvor. Es war wie Wärme, und dennoch war es kein Gefühl auf der Haut. Und auch nicht wie die Wärme, die ein Schluck Branntwein im Magen auslöste. Dieses Gefühl floss in ihren Blutbahnen und atmete durch ihren ganzen Körper.
»Althea?«
Brashens Stimme klang gepresst. Althea kam wieder zu sich und fragte sich, wie lange sie so kopfüber gehangen hatte. Undeutlich begriff sie, dass sie darauf vertraut hatte, dass Brashen ihr ganzes Gewicht halten würde, während sie so hing. Und den Pflock hatte sie immer noch in der Hand. Sie seufzte und spürte, wie das Blut in ihrem Gesicht pochte. Mit einer Hand drückte sie den Riegel zur Seite, und mit der anderen Hand schob sie den Pflock mühelos hinein. Als sie den Verschluss wieder losließ, schien er zu verschwinden, als habe es ihn niemals gegeben. Der Pflock war jetzt ein dauerhafter Bestandteil der Galionsfigur.
»Wieso dauert das so lange?«, begehrte Kyle zu wissen.
»Es ist vollbracht«, sagte Althea atemlos. Sie bezweifelte, dass jemand anders als Brashen sie hörte. Doch als er seinen Griff verstärkte und sie langsam hochzog, drehte sich Viviace plötzlich zu ihr um. Sie streckte die Arme aus, und ihre kraftvollen Hände packten die von Althea. Ihre grünen Augen erwiderten Altheas Blick.
»Ich hatte einen so merkwürdigen
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