Zauberschiffe 02 - Viviaces Erwachen
Elend auch nicht in Worten heraus.
»Ich kann euch nicht helfen. Ich kann euch nicht helfen.«
Wintrow sagte diese Worte immer wieder und biss sich auf die Zunge. Es stimmte, versicherte er sich. Er konnte ihnen nicht helfen. Er konnte ihre Ketten genauso wenig zerbrechen wie sie selbst. Selbst wenn er es gekonnt hätte, was dann? Er konnte die Tätowierungen nicht aus ihren Gesichtern löschen und ihnen weder bei einem Ausbruch noch bei der Flucht helfen. So schrecklich ihr Schicksal auch sein mochte: Es war das Beste, wenn er es jedem einzelnen überließ, sich seinem zu stellen und das Beste daraus zu machen. Einige würden später sicherlich Freiheit und Glück finden. Dieses ungeheure Elend konnte doch nicht für immer andauern.
Wie zur Bestätigung seines Gedankens überholte ihn ein Mann mit einem Schubkarren. Man hatte drei Leichen hineingeworfen.
Obwohl sie vollkommen ausgemergelt waren, hatte der Mann Mühe, ihn zu schieben. Eine Frau lief hinter ihm her und weinte untröstlich. »Bitte, bitte«, brach es aus ihr heraus, als sie an Wintrow vorbeigingen. »Gebt mir wenigstens seinen Leichnam.
Was kann er Euch nützen? Lasst mich meinen Sohn mit nach Hause nehmen und begraben! Bitte, bitte!«
Aber der Mann mit dem Schubkarren achtete nicht auf sie. Genauso wenig wie sonst jemand in der Menschenmenge, die sich auf der vollen Straße drängelte. Wintrow starrte hinter den beiden her und überlegte, ob die Frau vielleicht verrückt war. Vielleicht lag da ja gar nicht ihr Sohn in der Schubkarre, und der Mann wusste das. Oder vielleicht, dachte er, sind alle Menschen hier auf der Straße verrückt. Sie haben gerade eine leidende Mutter gesehen, die um den Leichnam ihres Sohnes bettelt, und unternehmen nichts. Genauso wie ich selbst. War er so rasch gegen menschliches Leid abgestumpft? Er hob den Blick und versuchte, die Szenerie, die sich ihm auf der Straße bot, mit neuen Augen zu betrachten.
Es überwältigte ihn. Die Leute schlenderten Arm in Arm über die Straße und begutachteten die ausgestellten Waren in den Buden, wie sie es auf jedem anderen Marktplatz auch getan hätten. Sie wogen Farbe und Größe ab, redeten über Alter und Geschlecht. Aber das Vieh und die Waren, die sie taxierten, waren Menschen! Es waren aneinandergekettete Reihen von Sklaven, die auf einem Hof standen. Eine Reihe von angeketteten Menschen, die in Gruppen oder einzeln feilgeboten wurden. Für allgemeine Arbeiten auf Bauernhöfen oder in der Stadt. Am Ende des Marktes bot ein Tätowierer seine Dienste an. Er lümmelte auf einem Stuhl neben einem lederüberzogenen Schraubstock, in den der Kopf eingespannt wurde, und einem massiven Stein, in dem ein Ringbolzen eingelassen war. Für einen vernünftigen Preis, so lautete der Singsang, konnte er jeden neuerworbenen Sklaven mit dem Emblem seines Besitzers kennzeichnen. Der Junge, der das ausrief, war an den Stein gefesselt. Er trug trotz des Wintertages nur einen Lendenschurz, und sein ganzer Körper war mit Tätowierungen bedeckt. Sie sollten offenbar für die Geschicklichkeit seines Herrn werben. Und alles für einen vernünftigen Preis, einen vernünftigen Preis.
Es gab Gebäude mit Sklaven, deren besondere Fähigkeiten auf Schildern verkündet wurden. Wintrow sah Symbole für Handwerker und Zimmerleute, für Näherinnen, und eins, das besonders Musiker und Tänzer anpries. Wie jeder Mensch zum Sklaven werden konnte, so konnte man hier auch jede Art von Sklaven kaufen. Kesselflicker, Schneider, Soldaten und Seeleute, dachte Wintrow. Lehrer und Kindermädchen, Schreiber und Buchhalter. Warum etwas mieten, was man kaufen konnte? Das schien hier auf dem Sklavenmarkt die vorherrschende Philosophie zu sein. Dennoch fragte sich Wintrow, ob die Menschen, die Sklaven kauften, nicht sich selbst in deren Gesichtern erkannten oder zumindest ihre Nachbarn darin sahen. Niemand außer ihm schien sich daran zu stören.
Einige hielten sich Spitzentaschentücher an die Nase, wenn der Geruch sie anwiderte. Sie zögerten jedoch nicht, von einem Sklaven zu verlangen, dass er aufstand und im Kreis herumtrottete, damit sie ihn besser inspizieren konnten.
Abgesperrte Bereiche waren der intimeren Besichtigung der weiblichen Sklaven vorbehalten.
Anscheinend wurden einige Sklaven besser behandelt und gehalten. Es waren die wertvolleren Sklaven, die Gebildeten und Talentierten. Einige von ihnen schienen sogar eine Art Stolz auf ihren Wert entwickelt zu haben und hielten sich trotz der
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