Zauberschiffe 02 - Viviaces Erwachen
nehmen darf.«
Die anderen Frauen nickten zustimmend.
16. Schiffe und Seeschlangen
Es war eine grobe Tätowierung, eine, die hastig durchgeführt und nur mit blauer Tinte gefärbt war. Aber es war dennoch unverwechselbar ihr Bildnis auf dem Gesicht des Jungen. Sie starrte ihn entsetzt an. »Daran bin ich schuld«, sagte sie. »Wäre ich nicht gewesen, wäre dir das nicht zugestoßen.«
»Das ist wahr«, stimmte er ihr müde zu. »Aber es bedeutet nicht, dass es deine Schuld war.«
Er drehte sich von ihr weg und setzte sich auf das Deck. Ob er auch nur ahnte, wie sehr seine Worte sie verletzten? Sie versuchte, seine Gefühle zu teilen, aber der Junge, der noch in der letzten Nacht vor Schmerz vibriert hatte, schien jetzt nur noch aus einer großen Leere zu bestehen. Er lehnte den Kopf in den Nacken und sog die saubere Luft ein, die über ihr Deck wehte. Mit einem Seufzer stieß er sie aus.
Der Mann am Steuerrad versuchte, sie hinaus in den Hauptkanal zu lenken. Mit beinahe träger Boshaftigkeit lehnte sie sich dagegen und leistete Widerstand. Das war für Kyle Haven, der tatsächlich glaubte, er könnte sie seinem Willen unterwerfen.
»Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll«, gab Wintrow leise zu.
»Wenn ich an dich denke, schäme ich mich, weil ich dich im Stich gelassen habe, als ich weggelaufen bin. Doch wenn ich dann an mich selbst denke, bin ich enttäuscht, weil ich es fast geschafft hätte, mein Leben wieder selbst bestimmen zu können. Ich will dich nicht allein lassen, aber ich will auch nicht auf dir eingesperrt sein.«
Er schüttelte den Kopf und lehnte sich dann wieder an die Reling. Er war abgerissen und schmutzig, und Torg hatte ihm nicht einmal die Ketten an den Handgelenken und den Knöcheln abgenommen, als er ihn herbrachte. Wintrow sprach jetzt über die Schulter, während er zu ihren Segeln emporsah. »Manchmal habe ich das Gefühl, als bestünde ich aus zwei Personen, als versuchte ich zwei verschiedene Leben zu leben. Oder anders gesagt: Wenn ich mit dir zusammen bin, bin ich jemand anders, als wenn wir getrennt sind. Wenn wir zusammen sind, dann… verliere ich etwas. Ich weiß nicht, wie ich es anders nennen sollte. Vielleicht meine Fähigkeit, nur ich selbst zu sein.«
Kribbelnde Furcht überlief Viviace. Seine Worte ähnelten viel zu sehr dem, was sie ihm hatte sagen wollen. Sie hatten Jamaillia-Stadt bereits gestern Morgen verlassen, aber Torg hatte Wintrow erst jetzt zu ihr gebracht. Zum ersten Mal sah sie, was man ihm angetan hatte. Am schlimmsten war das grobe Bildnis aus farbiger Tinte auf der Wange des Jungen. Nichts kennzeichnete ihn als Seemann, geschweige denn als Sohn des Kapitäns. Er sah aus wie irgendein Sklave. Doch trotz allem, was ihm widerfahren war, schien er äußerlich ruhig zu sein.
Er beantwortete ihre Gedanken, als er sagte: »Ich habe keinerlei Gefühle mehr. Durch dich bin ich alle Sklaven auf einmal. Wenn ich diese Empfindung zulassen würde, müsste ich verrückt werden. Also blockiere ich diese Gedanken und versuche, nichts zu empfinden.«
»Diese Gefühle sind zu stark«, stimmte Viviace ihm leise zu.
»Ihr Leiden ist zu groß. Es überwältigt mich, bis ich mich nicht mehr davon abgrenzen kann.«
Sie hielt inne und fuhr dann zögernd fort: »Es war schlimmer, als sie an Bord waren und du noch nicht. Allein weil du nicht an Bord warst, habe ich mich gefühlt, als würde ich mich verlieren. Ich glaube, du bist der Anker, der mich das bleiben lässt, was ich bin. Ich glaube, deshalb braucht ein Zauberschiff einen Verwandten an Bord.«
Wintrow antwortete nicht, aber sie hoffte, dass sein Schweigen bedeutete, dass er ihr zuhörte. »Ich nehme nur von dir«, gab sie zu. »Ich nehme, und ich gebe dir nichts dafür.«
Er rührte sich leicht. Seine Stimme klang tonlos, als er antwortete: »Du hast mir Kraft gegeben, und zwar mehr als einmal.«
»Aber nur, damit ich dich bei mir behalten kann«, sagte sie zurückhaltend. »Ich stärke dich, damit ich dich behalten kann.
Und so kann ich immer sicher sein, wer ich bin.«
Sie nahm allen Mut zusammen. »Wintrow, was war ich, bevor ich ein Lebensschiff wurde?«
Er schob seine Fesseln zur Seite und rieb abwesend seine Knöchel. Anscheinend verstand er die Wichtigkeit ihrer Frage nicht. »Ein Baum, nehme ich an. Eher wohl eine Reihe von Bäumen, wenn Hexenholz so wächst wie anderes Holz. Warum fragst du?«
»Während du weg warst, konnte ich mich fast an etwas erinnern… an etwas anderes. Wie Wind in
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