Zauberschiffe 02 - Viviaces Erwachen
Dunkelheit konnte Wintrow nicht sagen, wie er getötet worden war, sondern nur, dass er tot war. Er kniete sich neben ihn und hörte den Kampflärm auf dem Schiff, aber in seinem Verstand war nur Raum für diesen einen Tod. Milds Brust war noch warm. Der Regen und die Gischt hatten sein Gesicht und die Hände bereits abgekühlt, aber der Körper erkaltete langsamer.
Es starben auch andere, Sklaven und Matrosen. Viviace durchlebt das alles, schoss es Wintrow durch den Kopf. Sie fühlte es alles, und sie war ganz allein.
Wintrow rappelte sich hoch und machte sich stolpernd und ohne nachzudenken zu ihr auf den Weg. Mittschiffs hatten Matrosen unter einem groben Segeltuchzelt geschlafen. Wind und Regen waren ihnen lieber gewesen als der Gestank unter Deck. Jetzt war das Zelt zusammengebrochen und ein Spielball von Wind und Regen, während darunter Männer gegeneinander kämpften. Handfesseln wurden plötzlich zu Waffen. Wintrow wand sich durch die blutrünstigen Kämpfer.
»Nein! Nein!«, schrie er. »Ihr müsst damit aufhören. Das Schiff erträgt es nicht! Ihr müsst aufhören!«
Niemand achtete auf ihn.
Überall auf Deck lagen Männer. Einige zuckten, andere lagen ruhig da. Wintrow sprang über sie hinweg. Er konnte nichts für sie tun. Das einzige Wesen, dem er vermutlich noch helfen konnte, war das Schiff, das jetzt seinen Namen in die Nacht hinausschrie. Wintrow stolperte über einen Leichnam und rappelte sich wieder hoch. Er wich jemandem aus, der ihn zu packen versuchte, und kämpfte sich durch den Regen und die Nacht weiter, bis er die Leiter zum Vordeck ertastete.
»Viviace!«, rief er. Seine Stimme klang winzig und kläglich in dem Sturm, aber sie hörte ihn trotzdem.
»Wintrow! Wintrow!«, schrie sie außer sich. Sie rief seinen Namen wie ein Kind, das von einem Alptraum geplagt wird und nach seiner Mutter verlangt. Er kletterte hinauf zum Vordeck und wäre beinahe zurückgefallen, als die Viviace von einer Woge überspült wurde. Einen Moment konnte er sich nur an der Leiter festhalten und nach Luft ringen. In der nächsten Pause zwischen zwei Wellen sprang er auf, stürmte vor und erwischte das vordere Geländer. Er konnte sie nicht fühlen, sondern nur als schwarzen Schatten vor sich sehen.
»Viviace!«, schrie er.
Einen Moment antwortete sie nicht. Er umklammerte die Reling und streckte sich mit aller Kraft nach ihr aus. Wie warme Hände, die einen in einer kalten Nacht umfassten, so durchströmten ihn ihr Bewusstsein und ihre Erleichterung.
Dann jedoch überfielen ihn auch ihr Entsetzen und ihre Furcht.
»Sie haben Comfrey umgebracht! Jetzt steht niemand mehr am Ruder!«
Die Galionsfigur und der Junge tauchten in einer gewaltigen Welle unter. Das Hexenholzdeck schien unter seinen Füßen zu verschwinden. In der Finsternis spürte er ihr Wissen und ihre Verzweiflung, selbst als er um sein eigenes Überleben kämpfte. Er spürte ihre ungeheure Angst und bemerkte auch die mangelnde Kontrolle, als sie von den stürmischen Winden in die gewaltigen Wellenberge getrieben wurde. Die Mannschaft konnte ihren Pflichten nicht mehr nachkommen. Im Heck hatten sich einige verbarrikadiert und kämpften um ihr Leben. Andere starben langsam auf dem Deck, und während ihr Leben erlosch, schien es, als würde Viviace Stücke von sich selbst verlieren. Noch nie zuvor war ihm so klar gewesen, wie gewaltig die See und wie winzig das Schiff war, das sein Leben bewahrte. Als das Wasser durch die Speigatts ablief, konnte er sich mühsam hochrappeln.
»Was soll ich tun?«, fragte er sie.
»Geh ans Ruder!«, schrie sie ihm zu. »Übernimm das Steuer!«
Sie schrie plötzlich noch lauter. »Und sag ihnen, sie sollen aufhören, sich umzubringen, sonst sterben sie alle. Alle ohne Ausnahme, das schwöre ich!«
Er drehte sich zum Mittschiff um, holte tief Luft und brüllte die Männer an, die dort kämpften. »Ihr habt gehört, was sie gesagt hat! Sie wird uns umbringen, wenn ihr nicht sofort aufhört zu kämpfen! Hört auf! Alle, die etwas davon verstehen, in ihre Segel, oder es wird niemand von uns diese Nacht überleben! Und lasst mich durch zum Ruder!«
Sie stürzten in ein neues Wellental. Die Woge traf ihn von hinten und er wurde von ihr hoch in die Luft gehoben. Er spürte weder Deck noch Takelage, und seine Hände griffen nur ins Wasser. Vielleicht war er längst über Bord und wusste es nicht einmal. Er wollte schreien, aber statt Luft hatte er nur Salzwasser im Mund.
Im nächsten Augenblick fegte ihn die Welle
Weitere Kostenlose Bücher