Zauberschiffe 03 - Der Blinde Krieger
Wolken und Bilder von Seeschlangen in schäumenden Gewässern. Ein Junge kämpfte gegen seinen Folterer, der ihn würgte, bis er gehorchte. Ein Junge saß lange und unbeweglich da, von einem Buch fasziniert. Ein Junge hustete und schnappte nach Luft und versuchte, sich gegen die Tätowierung seines Gesichts zu wehren. Ein Junge verbrachte Stunden damit, sorgfältig Buchstaben nachzuzeichnen. Ein Junge presste seine Hand auf ein Deck und weigerte sich zu schreien, als sein infizierter Finger abgeschnitten wurde. Ein Junge grinste und schwitzte vor Freude, als eine Tätowierung aus seiner Hüfte gebrannt wurde.
Das Schiff hatte Recht gehabt. Es gab viele Verbindungen, vieles, in dem sie sich ähnelten. Diese Übereinstimmung konnte man nicht abstreiten. Sie überlappten sich, verschmolzen miteinander und wurden dann wieder getrennt.
Kennit wusste wieder, wer er war. Wintrow zuckte vor der Härte von Kennits Kindheit zurück. Im nächsten Moment wurde Kennit von einer Woge des Bedauerns und Mitgefühls überwältigt. Sie kam von dem Jungen. Wintrow griff nach ihm. Unwissend versuchte er, Teile zu reparieren, die Kennit absichtlich von sich losgelöst hatte. Das alles wart Ihr. Ihr solltet es behalten, meinte Wintrow hartnäckig. Ihr könnt nicht einfach Teile von Euch wegwerfen, nur weil sie schmerzhaft sind. Akzeptiert sie und macht weiter.
Der Junge hatte keine Ahnung, was er da vorschlug. Dieses jammernde, verkrüppelte Ding konnte niemals ein Teil von Kennit, dem Piraten sein. Kennit verteidigte sich dagegen, wie er es immer getan hatte. Wütend und verächtlich stieß er Wintrow zurück und verletzte die dünne Verbindung von Mitgefühl. Unmittelbar bevor sie sich trennten, bemerkte er, wie sehr den Jungen das verletzte. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlte er so etwas wie Bedauern in sich. Doch noch bevor er darüber richtig nachdenken konnte, hörte er wie aus weiter Ferne die Stimme einer Frau, die seinen Namen rief.
»Kennit, o Kennit. Bitte, bitte, bitte, geht nicht von uns. Kennit!«
Unerträgliche Schmerzen machten ihm bewusst, wo sein Körper war. Auf seiner Brust lag ein Gewicht, und er hatte das Gefühl, als höre sein Bein irgendwie nicht richtig auf. Er holte tief Luft. Sein Rachen war wund von Schnaps und Magensäure. Er öffnete mit einiger Kraftanstrengung die Augen. In seinem Gehirn brannte ein helles Licht.
Die Hure umklammerte seine linke Hand und benetzte sie mit ihren Tränen. Ihr feuchtes Gesicht, das zerwühlte Haar, ihre schrillen Schreie… Es war wirklich unerträglich. Er versuchte, seine Hand aus ihrem Griff zu befreien, aber er war zu schwach. »Etta. Hör damit auf. Bitte.« Seine Worte waren kaum mehr als ein heiseres Krächzen.
»O Kennit!«, schrie sie voller Freude. »Ihr seid nicht tot. Oh, meine Liebe!«
»Wasser«, sagte er. Damit wurde er sie los, und er konnte seinen Durst stillen. Sie hastete davon, zu der Karaffe auf der Anrichte. Er schluckte mühsam und stieß dann gegen das Gewicht auf seiner Brust. Es war haarig. Das Haar unter seinen Fingern war dicht, und das Gesicht war verschwitzt. Es gelang ihm, den Kopf ein wenig zu heben, und sah auf seine Brust hinunter. Es war Wintrow. Von dem Stuhl neben seinem Bett war der Junge auf Kennit gesunken. Er hatte die Augen geschlossen, und sein Gesicht hatte eine schrecklich weißliche Farbe angenommen. Seine Wangen waren tränenverschmiert. Der Kopf des Jungen lag auf seiner Brust und machte ihm das Atmen noch schwerer. Er wollte ihn wegstoßen, aber die Wärme seines Haares und der Haut unter seiner Hand erweckte auch eine unbekannte Sehnsucht. Es war, als wäre er selbst in dem Jungen neu geboren. Er konnte den Jungen schützen, wie er selbst nie beschützt worden war. Jetzt hatte er die Macht, die destruktiven Kräfte abzuwehren, die einmal sein eigenes Leben zerrissen hatten.
Immerhin waren sie nicht so verschieden. Das Schiff hatte es ja gesagt. Wenn er den Jungen beschützte, war es gleichsam, als rette er damit sich selbst.
Diese Macht erzeugte ein merkwürdiges Gefühl in ihm. Sie versprach einen tiefen Hunger zu stillen, der seit seiner Kindheit namenlos in ihm genagt hatte. Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, schlug Wintrow die Augen auf. Ihr Blick war dunkel und offen. Er sah direkt in Kennits Gesicht, und seine Miene zeigte einen Ausdruck von bodenlosem Kummer, der sich plötzlich in Staunen verwandelte. Der Junge hob die Hand und berührte Kennits Wange. »Ihr lebt«, flüsterte er. Seine Stimme
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