Zauberschiffe 04 - Die Stunde des Piraten
die Gegengewichte in der Wand bewegten. Sicher würde jetzt bald eine Mechanik die Arbeit übernehmen. Er fragte sich, wie viele Tonnen Erde wohl gegen die Tür pressten. Sie hatte seit Jahren festgesessen. Niemand konnte auch nur schätzen, seit wie vielen Jahren. Wie kam er nur auf den Gedanken, dass er sie öffnen könnte oder dass Erde hindurchfallen und Licht eindringen würde? Es war lächerlich. Die nächste Speiche, dagegen stemmen.
Plötzlich flackerte der Lichtstreifen auf und beleuchtete grausam die endgültige Zerstörung der Stadt. Er beleuchtete die immer größer werdenden Risse in den Wänden und das glänzende Wasser auf dem Boden. Zum ersten und letzten Mal in seinem Leben konnte Reyn einen flüchtigen Blick auf die ganze Schönheit dieses Raumes werfen. Er sah sich ehrfürchtig um. Noch während er staunte, barst etwas mit einem scharfen Knall. Das Geräusch kam jedoch nicht von der Tür, sondern von oben. Kristallscherben eines der großen Fenster in der Kuppel segelten wie gewaltige Eiszapfen herunter und zersprangen auf dem Boden der Kammer. Ein bisschen Erde rieselte hinterher. Das war alles.
»Mach weiter, Junge!«, ermunterte Reyn Selden. Sie bewegten synchron die Hebel und stemmten sich dagegen. Erneut drehten sich die Kurbeln knarrend.
Plötzlich ertönte auf Reyns Seite der Tür eine Reihe platzender Geräusche. Instinktiv stürzte er auf Selden zu, als die Tür plötzlich aus ihrer Fassung brach. Eine Seite bog sich nach innen. Es war ein großer, vertikaler Riss, der vom Boden bis zum oberen Ende der Tür reichte. Die Tür sackte von dort aus immer weiter ab. Wie die Schale eines zerschmetterten Eis breiteten sich die Risse auch in der Kuppel an der Decke aus. Kristallscheiben und Gipsfresken fielen wie verfaulte Früchte von einem Obstbaum im Sturm herunter. Sie konnten diesem Bombardement nicht entkommen, während die Decke vollkommen willkürlich dem Gewicht der Erde nachgab, die auf ihr ruhte.
Reyn drückte den Jungen an sich und hielt ihn fest, als könnte sein schwacher Körper ihn vor den Kräften der Erde beschützen. Der Junge klammerte sich an ihn, zu verängstigt, um zu schreien. Ein großes Stück der Kuppel löste sich krachend aus der Decke und landete kaum beschädigt schräg auf dem Hexenholzstamm. Selden befreite sich aus Reyns Griff. »Da. Wir sollten darunter Schutz suchen!« Bevor er den Jungen festhalten konnte, rannte Selden durch die Kammer und wich dabei den Stücken aus, die vom Dach herunterfielen. Dann verschwand er unter dem Glasdach.
»Das Wasser wird uns ertränken!«, schrie Reyn ihm hinterher. Dann folgte er dem Zickzackkurs des Jungen und kauerte sich mit ihm unter den zweifelhaften Schutz des Kuppelstücks. Der Lichtstreifen erlosch, und der Raum wurde schlagartig finster. Im selben Moment brach mit einem ohrenbetäubenden Knall die Decke zusammen.
Malta wachte auf, weil jemand ihr in den Rücken stieß. »Das ist nicht komisch, Selden! Es tut weh!«, fuhr sie ihn an.
Sie rollte herum und wollte ihn schütteln. Doch plötzlich waren die Wärme und Sicherheit ihres heimischen Schlafzimmers verschwunden. Ihr war kalt, und sie fühlte sich steif. Unter ihrer Wange knisterten Blätter. Der Satrap stieß sie erneut mit dem Fuß. »Steht auf!«, befahl er. »Ich sehe Licht durch die Bäume.«
»Tretet mich noch einmal, dann seht Ihr die Lichter mit geschlossenen Augen!«, fuhr sie ihn an. Er zuckte tatsächlich zurück.
Es war Abend. Zwar war es noch nicht dunkel genug, dass die Sterne schon zu sehen waren, aber wenigstens konnten sie das gelbliche Licht der Laternen erkennen. Ihre Stimmung besserte sich, aber nur kurz. Sie wussten jetzt zwar, wohin sie rudern mussten, aber es schien eine sehr große Strecke zu sein. Sie stand langsam auf. Alles tat ihr weh.
»Habt Ihr Ruder gefunden?«, fragte sie den Satrap.
»Ich bin kein Diener«, erwiderte er kalt.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich auch nicht«, erklärte sie und runzelte die Stirn. In dem zusammengefallenen Bootshaus würde es vollkommen düster sein. Wie konnte der Satrap, der rechtmäßige Herrscher von Jamaillia, nur ein derart nutzloser, dummer Mann sein? Sie betrachtete Kekki. Die Gefährtin hockte hoffnungsvoll in dem Boot wie ein Hündchen, das auf einen Ausflug wartet. Das Wasser war so flach, dass das Boot unter ihrem Gewicht bis auf den Boden gesunken war. Malta musste den Drang unterdrücken zu lachen. »Ich vermute, die einzige Möglichkeit, Euch beide loszuwerden,
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