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Zauberschiffe 04 - Die Stunde des Piraten

Titel: Zauberschiffe 04 - Die Stunde des Piraten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Hobb
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großartiges Auge.«
    Sie waren in der kleinen Kabine, die er einst mit seinem Vater geteilt hatte. Alle Spuren dieser Zeit waren längst verschwunden. Jetzt befanden sich nur noch seine sorgfältig gemachte Koje, der kleine Klapptisch und ein Schrank mit Manuskripten, Schriftrollen und Büchern in dem Raum. Wintrow hatte mit Ettas Lektionen in der Kapitänskajüte angefangen, aber Kennit fand bald, dass sie zu viel mit ihren Büchern, ihren Papieren und Stiften herumlärmten. Er hatte sie mit ihren Studien in Wintrows Kajüte verbannt. Wintrow störte das nicht. Noch nie zuvor hatte er so vollständigen und unbeaufsichtigten Zugang zu so viel Literatur gehabt. Und ganz gewiss hatte er noch nie ein Buch gesehen, das dem hier auch nur annähernd gleichkam.
    »Was steht denn drin?«, fragte Etta zögernd.
    »Ihr könnt es lesen«, ermunterte er sie. »Versucht es.«
    »Die Buchstaben sind so krakelig«, beschwerte sie sich, nahm jedoch das Buch, als er es ihr behutsam in die Hände legte. Sie runzelte die Stirn, als sie versuchte, die Schrift zu entziffern.
    »Lasst Euch nicht entmutigen. Seine Handschrift ist sehr schnörkelig, und einige der Anfangsbuchstaben sind besonders schmuckvoll ausgeführt. Betrachtet nur die Grundform der Buchstaben und ignoriert die Schnörkel. Versucht es.«
    Ihre Finger fuhren langsam über die Seite und fügten die Worte zusammen. Ihre Lippen bewegten sich, als sie lautlos versuchte, sie auszusprechen. Wintrow biss die Zähne zusammen, um ihr nicht einfach zu helfen. Nach einer Weile holte sie tief Luft und begann. »Von all den vielen bekannten Kräutern ist dieses hier die Königin. Ein Tee aus frischen Blätter klärt den Kopf.«
    Sie hielt unvermittelt inne und schloss das Buch vorsichtig. Als Wintrow sie verwirrt anschaute, bemerkte er, dass auch sie ihre Augen geschlossen hatte. Dann sah er, wie Tränen unter ihren Wimpern hervorquollen.
    »Ihr könnt lesen«, bestätigte er ihr. Er blieb regungslos stehen, weil er Angst hatte, mehr zu sagen. Es war eine sehr heikle Reise bis zu diesem Punkt gewesen. Denn Etta war eine ausgesprochen schwierige Schülerin. Sie war sehr klug. Aber seine Bemühungen, sie zu unterrichten, hatten eine tief sitzende Wut in ihr entfacht.
    Eine Weile war er sicher gewesen, dass dieser Zorn direkt gegen ihn selbst gerichtet war. Sie war gereizt, lehnte seine Hilfe ab und beschuldigte ihn dann, dass er sich zurückhielt, damit sie dumm aussah. Ihr Ärger beschränkte sich nicht darauf, ein wertvolles Buch durch die Kabine zu schleudern oder kostbares Papier zu zerfetzen. Mehr als einmal hatte sie ihn weggeschubst, als er sich über ihre Arbeit beugte, um sie zu korrigieren. Einmal hatte er seine Stimme erhoben, als er ihr zum fünften Mal erklärte, dass sie einen Buchstaben umdrehte. Sie hatte ihn geschlagen. Und es war kein leichter Klaps mit der flachen Hand gewesen, sondern ein Hieb mit der Faust in sein Gesicht, der ihn zu Boden geworfen hatte. Dann war sie aus dem Zimmer stolziert. Entschuldigt hatte sie sich dafür nie.
    Erst nach einigen Tagen wurde ihm klar, dass ihr Ärger nicht ihm galt. Sie wütete gegen ihre eigene abgrundtiefe Unwissenheit. Sie schämte sich, weil sie nichts wusste. Es demütigte sie, wenn sie ihn um Hilfe bitten musste. Bestand er darauf, dass sie es allein schaffen konnte, glaubte sie, dass er sie nur wegen ihrer Unwissenheit verspottete. Und angesichts ihrer Neigung, ihre Wut an ihm auszulassen, war sie nicht nur eine schwierige Schülerin, sondern auch noch eine ziemlich Furcht einflößende. Etta zu viel zu loben erwies sich als genauso gefährlich, wie sie sich abmühen zu lassen. Einmal hatte Wintrow versucht, dem zu entkommen. Er wandte sich an Kennit, damit der ihn von seiner Aufgabe entband. Insgeheim erwartete er, dass Kennit ihn einfach wieder zurückbefahl. Stattdessen hatte der Pirat den Kopf geneigt und ihn freundlich gefragt, ob er wirklich glaube, dass es Sas Willen entspräche, wenn er Etta nicht helfe. Während Wintrow überrumpelt von der Frage schweigend dastand, veränderte sich Kennits Miene plötzlich.
    »Es liegt daran, dass sie eine Hure ist, hab ich Recht?«, wollte er wissen. »Du glaubst, dass sie nicht gut genug ist, um von einem solchen Unterricht zu profitieren. Sie stößt dich ab, stimmt's?«
    Er stellte diese Frage in einem so verständnisvollen und freundlichen Ton, dass Wintrow glaubte, das Deck würde unter ihm beben. Blickte er auf Etta herab? Hegte er insgeheim das Gefühl, dass er etwas

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