Zaubersommer in Friday Harbor
Alice
verliebt. Ganz einfach so.”
„Glaube ich
nicht”, meinte Justine. „Ich schätze, dass Kevin deine Schwester benutzt
hat. Als Mittel zum Zweck, aus der Beziehung zu dir auszubrechen. Und jetzt
hat er sie an der Backe.”
„Selbst
wenn das stimmen sollte, muss ich begreifen, warum er mich nicht mehr
liebt.”
„Du
brauchst einfach nur einen neuen Freund.”
Lucy
schüttelte den Kopf. „Ich nehme mir erst mal eine Auszeit von den Männern, bis
ich herausgefunden habe, warum ich immer bei den Falschen lande.”
Aber ihre
Freundin ließ das nicht gelten. „Ich kenne eine Reihe großartiger Typen. Ich
kann dich mit jemandem verkuppeln.” Justine gehörte beinah jeder Gruppe
und jedem Club in Friday Harbor an. Sie meldete sich als freiwillige Helferin
für wohltätige Veranstaltungen und Volksläufe und leistete finanzielle
Unterstützung für einen lokalen Selbstverteidigungskurs für Frauen. Obwohl
Justines Kontakte zu Männern selten länger dauerten als das Abtasten durch
einen Sicherheitsoffizier auf dem Flughafen, schaffte sie es meistens, dass
sie und die Männer, mit denen sie mal gegangen war, Freunde blieben.
„Natürlich”,
fuhr Justine nachdenklich fort, „kann es sein, dass du deine Anforderungen ein
bisschen runterschrauben musst.”
„Meine
Anforderungen sind doch gar nicht so hoch”, widersprach Lucy. „Ich möchte
doch nur einen Mann, der auf sich achtet, ohne zu selbstverliebt zu sein ...
Der arbeitet, aber nicht nur für seinen Job lebt. Selbstbewusst sollte er sein,
aber nicht arrogant ... und nicht noch mit Mitte dreißig bei seinen Eltern
leben. Außerdem sollte er nicht davon ausgehen, dass eine Einladung zu einem
romantischen Essen in einem Restaurant automatisch dazu führt, dass ich mich
für ihn entblättere. Ist das wirklich zu viel verlangt?”
„Ja”,
entgegnete Justine. „Aber wenn du diese Qualitätenliste vergessen kannst,
findest du wahrscheinlich einen ganz annehmbaren Mann. So was wie Duane.”
Sie bezog
sich damit auf ihren derzeitigen Partner, einen Biker, der Lederklamotten trug
und eine 81er Harley Davidson Shovelhead fuhr.
„Habe ich
euch erzählt, dass ich an einem Auftrag für Hog Heaven arbeite?”, fragte
Lucy. Das war die Biker-Kirche, der Duane angehörte.
„Nein, hast
du nicht.”
„Sie wollen
das große Fenster an der Rückseite des Gebäudes austauschen, und ich soll es
für sie anfertigen. Ich habe ein paar Vorschläge aus der Gemeinde aufgegriffen.
Der Querbalken des Kreuzes wird ein stilisierter Motorradlenker werden.”
„Das ist ja
cool”, meinte Justine. „Ich hätte nie gedacht, dass sie sich deine Arbeit
leisten können.”
„Können sie
auch nicht”, gab Lucy grinsend zu. „Aber sie sind alle so nett, dass ich
sie nicht abweisen konnte. Also sind wir eine Art Tauschhandel eingegangen. Ich
übernehme die Glasarbeiten für sie, und wenn sie mir irgendwann mal einen
Gefallen tun können, soll ich sie einfach anrufen.”
Zwei Tage
lang hatte Lucy beinah rund um die Uhr in ihrer Kunstwerkstatt gearbeitet,
nachdem sie aus Kevins Haus ausgezogen war und sich in dem Zimmer im Artist
's Point eingerichtet hatte. Sie kam praktisch nur für ein paar Stunden
Schlaf in die Frühstückspension und kehrte schon vor Tagesanbruch wieder in ihr
Atelier zurück. Während das Fenster für die Biker-Kirche Gestalt annahm,
fühlte Lucy sich ihrer Arbeit noch stärker verbunden als sonst.
Der
Gemeindesaal der Biker-Kirche befand sich in einem ehemaligen Kino. Er war
klein und bisher fensterlos. Nun war dort, wo künftig das Buntglasfenster
prangen sollte, ein Loch mitten in die Vorderwand geschnitten worden. Früher
hatte dort die Kinoleinwand gehangen. Das ganze Gebäude war kaum mehr als sechs
Meter breit. Beidseits des Mittelgangs standen mehrere Reihen zu je sechs
Stühlen. „Wir bereiten uns auf den Himmel vor”, hatte ihr der Pastor
gesagt, „weil die Hölle uns nicht aufnehmen wird.” Nach diesen Worten
wusste Lucy ganz genau, wie das Fenster aussehen würde.
Sie verband
in dieser Arbeit zwei Techniken miteinander: zum einen die traditionelle
Bleiruten-Methode, bei der die Glasstücke in ein Fachwerk aus Bleischienen,
sogenannten Bleiruten, gesetzt wurden – zum anderen eine moderne Methode, bei
der stellenweise bunt lackierte Glasplatten auf größere Glasflächen aufgeklebt
wurden. Das verlieh dem Fenster mehr Tiefe
und den Eindruck von Dreidimensionalität. Nachdem sie die Einzelbilder in das
Fachwerk aus Bleiruten
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