Zaubersommer in Friday Harbor
Alice wollte, ob es nun richtig oder falsch
war.”
Einen
Moment schwieg ihre Mutter. „Ich gebe zu”, sagte sie schließlich, „dass ich
wohl stets etwas zu nachsichtig mit deiner Schwester war. Sie hat immer mehr
Hilfe gebraucht als du, Lucy. Sie war nicht so leistungsfähig wie du, und nach
der Meningitis hat sie sich nie richtig erholt. Wechselnde Launen und
Depressionen ...”
„Das alles
könnte auch darauf zurückzuführen sein, dass ihr sie hoffnungslos verzogen
habt.”
„Lucy.”
Der Ton ihrer Mutter war vorwurfsvoll.
„Ich bin
ebenso schuld”, fuhr Lucy fort. „Schließlich habe ich ihr genauso geholfen
wie alle anderen. Wir haben sie immer wie ein kleines Kind behandelt. Natürlich
kann es sein, dass sie mit Langzeitfolgen der Meningitis zu kämpfen hat. Aber
... irgendwann muss Alice auch mal selbst die Verantwortung für ihr Verhalten
übernehmen.”
„Möchtest
du nach Kalifornien kommen und uns besuchen? Mal für ein paar Tage raus? Dad
und ich bezahlen das Flugticket.”
Lucy
lächelte. Der Themawechsel war zu offensichtlich. „Danke, das ist wirklich lieb
von euch. Aber ich würde ja doch nur herumhängen und Trübsal blasen. Ich
glaube, es ist besser für mich, hierzubleiben und zu arbeiten.”
„Brauchst
du irgendwas?”
„Nein, es
ist alles okay. Ich nehme jeden Tag, wie er kommt. Schwierig wird es, wenn ich
zufällig mit Kevin und Alice zusammentreffe. Ich weiß noch nicht, wie ich
damit umgehen soll.”
„Es ist
doch wohl zu hoffen, dass Kevin so anständig ist, sie in Seattle zu besuchen,
statt darauf zu bestehen, dass sie ihn auf der Insel besucht.”
Lucy
blinzelte verdutzt. „Sie werden beide hier sein, Mom.”
„Wie meinst du
das?”
„Hat Alice
dir das nicht gesagt? Sie zieht zu Kevin.”
„Nein, sie
...” Ihre Mutter unterbrach sich. „Großer Gott. In das Haus, in dem ihr
beide gewohnt habt?”
„Ja.”
„Und was
macht Alice mit ihrer Wohnung in Seattle?”
„Keine
Ahnung”, gab Lucy trocken zurück. „Vielleicht sollte ich sie
mieten.”
„Lucy, das
ist ganz und gar nicht witzig!”
„Tut mir
leid. Es ist nur ... Alice hat sich mein Leben angezogen wie ein altes Kleid.
Und das Verrückte an der Sache ist – sie scheint deswegen keinerlei
Schuldgefühle zu haben. Ich glaube sogar, dass sie der Meinung ist, ein Anrecht
auf meinen Freund zu haben. So als müsste ich ihn ihr überlassen, nur weil sie
ihn haben will.”
„Das ist
meine Schuld. Wie ich sie erzogen habe ...”
„Warte”,
fiel Lucy ihr ins Wort. Da ihr Ton schärfer ausfiel, als sie es wollte, holte
sie kurz Luft und sprach dann ruhiger weiter. „Mom, bitte, kann sie nicht
einmal, ein einziges Mal, selbst Schuld haben? Können wir uns einfach
darauf einigen, dass Alice etwas falsch gemacht hat, statt ein Dutzend Wege zu
suchen, sie zu entschuldigen? Denn jedes Mal, wenn ich daran denke, dass sie
in meinem Haus schläft, in meinem Bett, mit meinem Freund, dann ist mir ganz
und gar danach, ihr die Schuld zu geben.”
„Aber, Lucy – auch wenn es dafür sicher viel zu früh ist –, sie ist deine Schwester. Und
wenn sie eines Tages zu dir kommt, um dich aufrichtig um Verzeihung zu bitten,
dann hoffe ich doch, dass du ihr vergeben wirst. Schließlich sind wir eine Familie.”
„Du hast
recht: Es ist viel zu früh dafür. Hör mal, Mom, ich ... muss jetzt weg.”
Lucy wusste, dass ihre Mutter nur zu helfen versuchte. Aber Gespräche dieser
Art waren zwischen ihnen noch nie gut gelaufen. Sie konnten über Oberflächlichkeiten
reden. Aber sowie sie ernstere Themen anschnitten, schien ihre Mutter zu glauben,
sie müsse Lucy vorschreiben, wie sie zu denken und zu fühlen hatte.
Infolgedessen hatte Lucy die persönlichen Einzelheiten ihrer Beziehungen immer
viel lieber ihren Freundinnen als ihrer Familie anvertraut.
„Ich weiß,
du glaubst nicht, dass ich verstehen kann, wie du dich fühlst, Lucy”,
sagte ihre Mutter. „Aber ich tue es.”
„Tatsächlich?”
Während Lucy darauf wartete, dass ihre Mutter weiterredete, fiel ihr Blick auf
einen Kunstdruck von Munchs Tanz des Lebens. Das Werk zeigte mehrere
tanzende Paare in einer Sommernacht. Und zwei Frauen, die allein danebenstanden.
Die junge Frau auf der Linken war in Weiß gekleidet und sah unschuldig und
voller Hoffnung aus. Die Ältere auf der Rechten dagegen trug Schwarz, und ihre
steife, unnachgiebige Haltung vermittelte die Verbitterung über eine Liebesaffäre,
die unschön geendet hatte.
„Bevor ich
geheiratet
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