Zaubersommer in Friday Harbor
Dinge beiseitegelegt, um sie in einer Truhe auf
dem Dachboden aufzubewahren. Und er schrieb seine eigenen Erinnerungen an
Vicky nieder, lustige oder schöne Geschichten, die er eines Tages mit Holly
teilen wollte.
Manchmal
wünschte sich Sam, er könne mit Vicky über ihre Tochter reden, ihr erzählen,
wie verflixt niedlich und klug Holly war. Ihr sagen, wie sie sich entwickelte
und wie sie die Dinge um sich herum beeinflusste und veränderte. Sam verstand
jetzt einiges von seiner Schwester, über das er nie nachgedacht hatte, als sie
noch am Leben war: Wie schwer es für sie als alleinerziehende Mutter gewesen
sein musste. Wie mühsam es werden konnte, das Haus zu verlassen, wenn man etwas
zu erledigen hatte. Denn wenn man Holly irgendwohin mitnehmen wollte, brauchte
sie immer mindestens eine Viertelstunde, um ihre Schuhe zu finden.
Andererseits
lohnte es sich auch auf unerwartete Weise, sich mit einem Kind zu beschäftigen.
Nie hatte er damit gerechnet, so starke Gefühle für Holly zu entwickeln. Als
er ihr beibrachte, ihre Schuhe zuzubinden, beobachtete er gerührt, wie sie
sich, die kleine Stirn hochkonzentriert in Falten gelegt, mit den Bändern
abmühte. Väterliche Gefühle, vermutete er. Nur zu gern hätte er seiner
Schwester davon erzählt. Auch davon, wie leid es ihm tat, dass er sich so wenig
um sie und das Kind gekümmert hatte, als das noch möglich gewesen wäre.
Aber so
waren die Nolans nun mal.
Hollys Füße
trommelten ihm sanft auf die Brust.
„Wie viel
zahlst du mir?”, ließ sie nicht locker.
„Du und ich – wir arbeiten heute beide unentgeltlich”, erklärte Sam.
„Das
verstößt aber gegen das Gesetz, mich umsonst arbeiten zu lassen.”
„Holly,
Holly ... du wirst mich doch nicht anzeigen, nur weil ich gegen ein paar
armselige Gesetze zur Kinderarbeit verstoße, oder?”
„Doch”,
gab sie fröhlich zurück.
„Na schön,
wie wäre es mit einem Dollar?”
„Fünf
Dollar.”
„Wie wäre
es mit einem Dollar und heute Nachmittag einem Eis in Friday Harbor?”
„Abgemacht!”
Es war
Sonntagmorgen. Zwischen den Weinstöcken hing noch der Frühdunst, und das Wasser
in der Bucht lag still da und schimmerte wie poliertes Silber. Dann jedoch
wurde die friedliche Morgenstimmung vom Grollen des Caval-Traktors zerrissen,
der sich langsam auf seinen Weg zwischen den Rebstockreihen hindurch machte.
„Warum
hängen wir Netze über den Wein?”, fragte Holly. „Um die Vögel von den
Früchten fernzuhalten.”
„Warum
machen wir das erst jetzt?”
„Während
der Blüte war das noch nicht nötig, und die ersten winzigen Beerenansätze
mussten wir auch noch nicht schützen. Aber jetzt sind wir in der nächsten
Phase, der Véraison.”
„Was
bedeutet das?”
„Das ist
Französisch und heißt Reife. Die Beeren werden größer, und
in ihnen bildet sich allmählich Zucker. Sie werden also immer süßer, je reifer
sie werden. Genau wie ich.”
Er blieb
stehen und setzte Holly vorsichtig ab. „Warum sagst du Véraison, statt
einfach von Beerenreife zu reden?”, fragte sie.
„Weil die
Franzosen diesen Vorgang als Erste benannt haben. Ich mag den Begriff. Auf
Französisch klingt alles viel schöner.”
Sie würden
zwei bis drei Tage brauchen, um die ganze Weinpflanzung mit Netzen zu
schützen. Aber dann konnten die Reben nicht mehr von Tieren geplündert werden,
und die Arbeiter kamen trotzdem ungehindert an die Pflanzen heran, um die
Trauben herauszuschneiden, die zu spät reifen würden.
Nachdem die
ersten Netze ausgelegt waren, hob Sam sich seine Nichte wieder auf die
Schultern, und einer seiner Arbeiter zeigte ihr, wie man die Netze mithilfe
einer dicken Holznadel und des Zwirns fest miteinander verband.
Mit ihren
kleinen Händen nähte Holly die Netze geschickt und flink zusammen. Die
Stickerei auf ihrer rosa Baseballkappe glitzerte in der Sonne, als sie zu ihrer
Arbeit aufschaute. „Ich nähe den Himmel zu”, erklärte sie, und Sam musste
grinsen.
Um die
Mittagszeit machten
die Arbeiter eine Pause, und Sam schickte Holly ins Haus, damit sie sich wusch.
Er selbst schlenderte allein durch seinen Weinberg, lauschte dem Rascheln der
Blätter im Wind und blieb gelegentlich stehen, um seine Finger auf einen
Rebstock oder eine Rebe zu legen. Er spürte die feine Vibration, die von
gesunden Trieben ausging, fühlte, wie das Wasser von den Wurzeln aufstieg, die
Blätter das Sonnenlicht aufnahmen, die Beeren weicher wurden und schwer von
Zucker.
Wenn er
seine Hand über die
Weitere Kostenlose Bücher