Zaubersommer in Friday Harbor
jüngsten Triebe an der Spitze der Pflanze hielt, wandten
sich die Blätter sichtbar ihm zu.
Schon in
seiner Kindheit hatte sich erwiesen, dass Sam eine besondere Beziehung zu allem
hatte, was wuchs. Damals arbeitete er im Garten eines benachbarten kinderlosen
Ehepaars, Fred und Mary Harbison. Als Sam ungefähr zehn war, hatte er mit einem
Bumerang gespielt, den er zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, und damit
ihr Wohnzimmerfenster eingeworfen.
Fred kam
nach draußen gehumpelt. Er sah so groß und knorrig aus wie eine alte Eiche,
aber sein strenges hässliches Gesicht verriet seine von Grund auf freundliche
Natur. „Lauf nicht weg”, sagte er, als Sam sich bereit machte, davonzusprinten.
Und Sam blieb, starrte ihn misstrauisch und fasziniert zugleich an.
„Du kannst
dein Spielzeug wiederhaben”, erklärte Fred ihm, „wenn du uns hier und da
ein wenig hilfst und so das kaputte Fenster abbezahlst. Für den Anfang bräuchte
Mrs Harbison jemanden, der in ihrem Garten Unkraut jätet.”
Sam mochte
Mary sofort. Die ältere Frau war so klein und rundlich, wie ihr Mann groß und
dürr war. Nachdem sie ihm gezeigt hatte, welche der eifrig sprießenden Pflanzen
Unkraut waren und welche Blumen, machte Sam sich an die Arbeit.
Als er da
auf dem Boden kniete, Unkraut zupfte und Pflanzlöcher für Zwiebeln, Knollen
und Sämlinge grub, war ihm so, als redeten die Pflanzen mit ihm und teilten ihm
wortlos mit, was sie brauchten. Ohne auch nur um Erlaubnis zu fragen, holte Sam
sich einen kleinen Spaten aus dem Geräteschuppen der Harbisons und pflanzte ein
paar Primeln um, damit sie mehr Sonne bekamen. Außerdem setzte er die Sämlinge
von Rittersporn und Margeriten nicht dorthin, wo Mary sie haben wollte, sondern
an andere Stellen im Garten.
Danach ging
Sam beinah jeden Tag nach der Schule zu den Harbisons, auch nachdem Fred ihm
längst seinen Bumerang zurückgegeben hatte. Während Sam am Küchentisch seine
Hausaufgaben erledigte, stellte Mary ihm immer ein Glas kalte Milch und ein
Schälchen Salzcracker hin. Sie ließ ihn in ihren Gartenbüchern schmökern und
sorgte dafür, dass alles herbeigeschafft wurde, wovon er behauptete, der Boden
brauche es: Seetang und Knochenmehl, zermahlene Eierschalen, Kalk und Magnesiumkarbonat,
ja sogar Fischabfälle vom Markt. Als Ergebnis seiner Mühen blühte der Garten in
einer Pracht und Fülle, dass die Leute auf der Straße stehen blieben, um den Anblick
zu bewundern.
„Also,
weißt du, Sam”, sagte Mary hocherfreut und zeigte ihr weiches runzliges
Lächeln, das er so liebte, „du hast einen grünen Daumen.”
Aber Sam
wusste, dass es mehr als das war. Irgendwie lagen der Garten und er auf der
gleichen Wellenlänge. Und er hatte etwas bemerkt, was nur wenigen auffiel: Die
ganze Welt war empfindungsfähig und lebendig. Er wusste instinktiv, welche
Saaten bei abnehmendem Mond ausgebracht werden wollten und welche bei
zunehmendem. Er wusste, ohne dass es ihm jemand gesagt hätte, wie viel Wasser
und Sonne die Pflanzen brauchten, womit der Boden angereichert werden musste,
wie man Pilzbefall mit einer Wasser-Seife-Lösung bekämpfte und dass
Studentenblumen Blattläuse fernhielten.
Hinter dem
Haus legte er einen Nutzgarten für Mary an, und der lieferte reiche Ernten
gesunder aromatischer Gemüse und alle möglichen Kräuter. Sam erkannte, dass
Kürbisse und Gurken sich gut vertrugen, dass Bohnen gern in der Nähe von Sellerie
standen, die Nähe von Zwiebeln aber gar nicht mochten, und dass man auf keinen
Fall Blumenkohl und Tomaten nebeneinander pflanzen durfte. Wenn Sam sich um
die Pflanzen kümmerte, wurde er nie von Bienen gestochen oder von Fliegen belästigt,
und die Bäume reckten ihre Zweige über ihn, so weit sie konnten, um ihm
Schatten zu spenden.
Es war Mary
zu verdanken, dass er von einem eigenen Weinberg zu träumen begann. „Beim Wein
geht es nicht ums Trinken”, erklärte sie ihm. „Beim Wein geht es um Leben
und Lieben.”
Tief in
Gedanken wanderte Sam in eine Ecke seines Weinhangs, um sich einen Rebstock
anzusehen, der ganz anders war als alle anderen. Er war groß und knorrig. Er
lebte noch, gedieh aber nicht, zeigte keinen Fruchtansatz, sondern nur fest geschlossene
Knospen. All seinen Bemühungen zum Trotz hatte Sam noch
nicht herausfinden können, was er tun musste, damit diese Pflanze gedieh. Und
es gelang ihm auch nicht, Kontakt aufzunehmen. Es gab keine schweigende
Kommunikation, kein Gefühl dafür, was der Rebstock brauchte ... nur Leere.
Als
Weitere Kostenlose Bücher