Zaubersommer in Friday Harbor
führte er
sie ins Wohnzimmer.
Seltsamerweise
kam es Lucy so vor, als sei ihre Schwester viel verletzlicher als sie selbst,
obwohl sie doch diejenige war, die mit Verband und Beinschiene dasaß. Das dick
aufgetragene Make-up, der angespannte Gesichtsausdruck, die hochhackigen
Schuhe, die ihre Bewegungsfreiheit einschränkten – all das ließ Alice
angeschlagen und unsicher erscheinen.
„Hi”,
begann ihre Schwester.
„Hi.” Lucy
zwang sich zu einem oberflächlichen Lächeln. „Mach's dir bequem.”
Sie sah zu,
wie Alice sich vorsichtig auf die Kante eines in der Nähe stehenden Stuhles setzte,
und ihr schien es, als seien sie gemeinsam in ihrer persönlichen Geschichte
gefangen. Ihr Verhältnis zu Alice war die frustrierendste Beziehung ihres
ganzen Lebens. Da gab es jede Menge Konkurrenzkampf, Eifersucht, Neid,
Schuldgefühle und Verbitterung. Ihre Kindheit war von einem ständigen Gerangel
um die begrenzte Aufmerksamkeit ihrer Eltern geprägt. Obwohl Lucy immer gehofft
hatte, der Konflikt werde sich geben, wenn sie älter wären, schien er jetzt
heftiger zu toben als je zuvor.
„Das ist
Renfield”, erklärte Lucy, als sie bemerkte, dass Alice den Hund anstarrte.
„Stimmt
irgendwas nicht mit ihm?”, fragte Alice angeekelt.
„Die Dinge
aufzuzählen, die bei ihm in Ordnung sind, wäre einfacher”, warf Sam ein.
„Ich gebe euch zehn Minuten”, fügte er an Lucy gewandt hinzu. „Danach geht
deine Schwester. Du brauchst deine Ruhe.”
„Okay”,
stimmte Lucy mit einem aufgesetzten Lächeln zu. Alice gab sich gekränkt, als
Sam das Zimmer verließ. „Warum ist er so unhöflich?”
„Er
versucht, auf mich aufzupassen”, antwortete Lucy leise. „Was hast du ihm
über mich erzählt?”
„Sehr
wenig.”
„Ich bin
sicher, du hast mit ihm darüber gesprochen, wie Kevin dich sitzen lassen hat
und was du glaubst, dass ich dir-...”
„Stell dir
vor, unsere Unterhaltungen drehen sich hier nicht um dich”, unterbrach
Lucy sie schärfer als beabsichtigt.
Alice
schloss den Mund und wirkte beleidigt.
„Hat Mom
dich gebeten, nach mir zu schauen?”, fragte Lucy nach einem kurzen
ungemütlichen Schweigen.
„Nein, das
war meine Idee. Ich mag dich immer noch gern, Lucy. Ich verhalte mich zwar
nicht immer so, wie du es am liebsten hättest, aber ich bin deine
Schwester.”
Lucy
verkniff sich einen spitzen Kommentar. Als ihr bewusst wurde, dass sie sich
völlig verkrampfte, versuchte sie, sich zu entspannen. Ihr Rücken protestierte
mit stechenden Schmerzen.
Warum um
alles in der Welt war Alice gekommen? Lucy hätte gern geglaubt, dass sie sich
Sorgen machte oder dass doch wenigstens ein Rest ehrlicher schwesterlicher
Gefühle zwischen ihnen bestand. Aber offensichtlich reichten Blutsbande nicht
aus, um ihr Verhältnis zueinander zu kitten. Denn die unerfreuliche Wahrheit
war: Wäre Alice nicht ihre Schwester, hätte Lucy nichts mit ihr zu tun haben
wollen.
„Wie läuft
es zwischen dir und Kevin?”, erkundigte sie sich. „Sitzt ihr immer noch an
der Hochzeitsplanung?”
„Ja. Mom
und Dad kommen morgen, um unsere Hochzeitspläne mit uns zu besprechen.”
„Sie werden
die Hochzeit also bezahlen?”
„Ich glaube
schon.”
„Dachte
ich's mir doch”, rutschte es Lucy unwillkürlich heraus. Ganz egal, wie
oft ihre Eltern auch das Gegenteil behaupteten, sie würden niemals Alice für
irgendetwas verantwortlich machen.
„Du bist
also nicht der Meinung, dass sie das tun sollten?”, fragte Alice.
„Und du
bist dieser Meinung?”, schoss Lucy zurück.
„Natürlich.
Ich bin ihre Tochter.” Alices Augen nahmen einen harten Ausdruck an. „Es
gibt da etwas, das du begreifen solltest, Lucy. Ich hatte nie vor, dir
wehzutun. Genauso wenig hatte Kevin das vor. Es ging nie um dich. Du warst
einfach nur ...
„Ein
Kollateralschaden?”
„Ich
schätze, so könnte man es nennen.”
„Keiner von
euch beiden hat auch nur eine Sekunde über das hinausgedacht, was ihr gerade
wolltet.”
„Liebe ist
nun mal so”, gab Alice ohne eine Spur von Schuldgefühl zurück.
„Tatsächlich?”
Lucy ließ sich tiefer in die Sofaecke sinken und verschränkte die Arme vor der
Brust. „Ist dir je der Gedanke gekommen, du könntest Kevin einfach nur als der
leichteste Ausweg erschienen sein, als ihm klar wurde, dass er mit mir Schluss
machen wollte?”
„Nein”,
fauchte Alice. „Ich bin so unglaublich von mir selbst überzeugt, dass ich
glaube, er hat sich tatsächlich in mich verliebt. Und – so schwer
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