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Zebulon

Zebulon

Titel: Zebulon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rudolph Wurlitzer
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Himmelsgängern über die verschneiten Gipfel auf sie zukam. Einige waren Konquistadoren und Mountain Men, andere Hopis, Navajos, Zunis und Apachen. Alle begrüßten mit erhobenen Armen die aufgehende Sonne. Als Letzter erschien Annie Mays längst verstorbener Bruder. Ihm folgten ihre Mutter und ihr Vater und dann der Prediger ihrer Jugend, der ihr mit feurigen Sermonen über Sünde und Buße Angst eingejagt hatte und der jetzt, als sie über das Tal blickte, traurig und verwirrt schien. Der Himmel veränderte sich, und der Aufmarsch löste sich auf und wich einem Bild von ihr selbst als kleinem Mädchen, das mitten im hohen, wogenden Gras einer Wiese stand, eine Haube tief über den Kopf gezogen, die bloßen Füße fest auf der schwarzen Erde, und vor Angst laut schrie, während ein Adler in langsam enger werdenden Kreisen zu ihr herabschwebte. Ihre Mutter sah von der Tür ihrer Heimstatt aus zu, wie der Adler sie sanft mit seinen Fängen aufhob und mit ihr über die grasbewachsenen Ebenen davonflog, den Vorbergen und den hohen Gipfeln entgegen. Bruchstücke ihres Lebens tauchten eines nach dem anderen auf: ihre ersten Schuhe, ihr Brautbett, der lange weiße Bart ihres Vaters hinter dem Maultier in der letzten Furche eines umgepflügten Ackers, ihr Mann Elijah, der sie auf dem Tanzboden herumwirbelte und sie dann auf den Schultern durch die Tür der Hütte trug, die er für sie gebaut hatte; und dann krabbelte der kleine Zebulon auf dem Lehmboden herum. Sie weinte und weinte, überwältigt von den Erinnerungen und vom nahenden Schatten ihres eigenen Todes.
    »Sind wir tot?«, rief sie. »Oder scheint es nur so?«
    Zebulon schloss ihren schwachen, gebrechlichen Leib in die Arme, während Hatchet Jack, im Bann seiner eigenen Visionen und ohne ihr lautes Schluchzen und ihre jähen Lachanfälle zu bemerken, mit den flachen Händen auf die Erde schlug. »Wer sind meine wirklichen Eltern«, heulte er, »und warum haben sie mich im Stich gelassen?«
    Nur das Heulen des Windes antwortete ihm.
    »Seht ihr die Wahrheit, die darin liegt, ihr beiden?«, rief Annie May. »Leben und Tod. Der Adler und der Aufwasch und das Klohäuschen. Der Herd und der Schnee. Das Pferd und die Berge und der Tabaksaft. Kein Zweifel. Alles ist nur ein Übergang, ihr und ich und alles Übrige. Wir sind die Dummen, Jungs!«
    Zebulon trat an den Rand der Terrasse. Vor ihm wellten sich die Berge wie drei kopulierende Schlangen. Er weinte, weil ihn die Kräfte zu verzehren drohten, mütterlich und liebevoll, gewaltsam und furchterregend, eine warme, zischelnde Brise, die durch die festen Knoten seines Daseins wehte. Er wusste, was er schon immer gewusst und immer wieder vergessen hatte: dass er aus denselben Elementen bestand wie die Pflanzen, die Tiere und der Regen, der jetzt in dichten Vorhängen über das tiefe Tal zog, gefolgt von der Sonne und einem erderschütternden Donnergrollen, das sich jäh in das Gebrüll eines Silberlöwen verwandelte. Er war Teil von alledem, ein Tropfen Wasser im Ozean, eine zerdrückte Wildblume unter dem Stiefelabsatz eines Gesetzlosen, ein von der Sonne ausgeglühtes Gerippe in der Wüste.
    Als Hatchet Jack plötzlich vor ihm stand, löste sich die Vision in einem Nebeldunst auf.
    Den Rest der Nacht schliefen Mutter und Sohn in enger Umarmung, jeder getröstet durch den Atem des anderen. Als sie aufwachten, waren sie allein, und die Sonne stand direkt über ihnen und schien wie durch ein riesiges Prisma.
    Hinter ihnen war der Altar verschwunden und der Kreis ausgelöscht, als hätte nichts davon je existiert.
    Von jedem Gedanken und jedem Gefühl entleert, kletterten sie durch die Ruinen, bis sie Hatchet Jack fanden, der gerade sein Pferd belud. Plaxico saß an einer Mauer und drehte sich eine Zigarette.
    »Ich zieh los.« Hatchet Jack zitterten die Hände, als er sich in den Sattel schwang. »Ein Teil der Medizin hat gewirkt, und ein Teil ist verloren gegangen.« Er schaute Plaxico an, dann Annie May. »Die Geister haben mir gesagt, dass ich schlecht beraten wäre, dir das Pferd zu geben.«
    »Wen kümmert das denn?«, sagte Annie May leise. »Es ist alles ein und dasselbe, mit Pferd oder ohne.«
    Sie schauten Hatchet Jack nach, der davongaloppierte, ohne zu winken oder sich umzudrehen, als würde er von einer Wirrnis unbekannter Geheimnisse verfolgt.
    »Er hat wirklich mit einigen der Geister gesprochen«, sagte Plaxico. »Aber am Rest hat er sich verschluckt. Ein zu üppiges Mahl für einen Anfänger.«
    Und dann

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