Zehn (German Edition)
ihn zu hänseln.
So war Herr Masamori selbst für einen Moment Samurai gewesen, über sechzig Jahre war das nun her.
Mit großen Augen sah er nun zu, wie Andre der Riese den fuchtelnden Hulk Hogan gegen die Bande warf. Die Zuschauer in den ersten Reihen waren mittlerweile von ihren Sitzen aufgesprungen. Es war das Recht eines Samurai, jeden zu schlagen, der ihm keinen Respekt erwies. Dieser Andre, Andre der Riese, war ein Samurai. Kein typischer vielleicht. Aber er verschaffte sich Respekt. Er war furchtlos und schien keine Schmerzen zu kennen. Herr Masamori lächelte.
Was für einen großen Schädel er hatte. Ruhig sah Andre nun ins Publikum. Nur für einen Moment wandte er Hulk Hogan den Rücken zu. Plötzlich sprang der blonde Kämpfer auf, packte Andre von hinten am Hals und warf ihn zu Boden. Herr Masamori entfuhr ein leises »Oh!«. Er beugte sich vor, um besser sehen zu können. Er hatte keinen Zweifel daran, dass Hulk hinterlistig und ohne Ehre war. Einen Samurai von hinten anzugreifen, ohne ihm in die Augen zu sehen, war feige.
Wo war nur seine Brille? Eigentlich benutzte er sie seit Jahren kaum, jetzt wünschte er sie sich. Aber er konnte sich nicht vom Bildschirm losreißen, konnte nicht aufstehen, um die Brille zu suchen.
Er rückte den Sessel ganz nah an den Fernseher heran und musste mitansehen, wie sich Hulk Hogan wieder und wieder auf den Riesen warf, mit der Faust auf ihn einschlug, bis dieser sich kaum mehr rührte. Es betrübte Herrn Masamori, den Riesen am Boden zu sehen, und er merkte, dass er seine rechte Hand zur Faust geballt hatte.
Die kleine Glocke des Ladens ging.
Herr Ogawa trat ein, strahlte und verbeugte sich.
»Na, siehst du! Nicht so schlecht, so ein Fernseher, was?«
Er setzte sich, und die beiden sahen zu, wie Andre der Riese seinen Kampf gegen den blonden Hünen mit der gelben Hose verlor.
Im Anschluss an den Kampf sendeten sie eine Dokumentation über den sanften Riesen, Andre. Der alte Mann war so gefesselt, dass er vergaß, Herrn Ogawa Tee anzubieten. Der erhob sich zum Gehen. Als ihn Herr Masamori zur Tür begleitete, durchfuhr ihn ein heftiger Schmerz. Seine Lymphknoten am Hals waren hart und geschwollen und er fühlte ein wildes Fieber im Körper, das ganz plötzlich entfacht war.
Herr Ogawa machte einen Tee und überzeugte Herrn Masamori, in der nächsten Woche mit ihm zum Arzt zu fahren. Bevor er ging, sah er Herrn Masamori besorgt an: »Isst du auch genug? Du bist sehr dünn geworden!« Vielleicht stimmte wirklich etwas nicht.
An dem Abend war Herr Masamori früh zu Bett gegangen. Schwitzend schlief er ein und suchte im Traum einen Sitzplatz. Er wandelte in einer großen Halle umher, die sich nach und nach mit Menschen füllte. Herr Masamori stieß an Schienbeine und Knie und konnte nicht aufhören, sich höflich zu entschuldigen. Plötzlich tippte ihm jemand auf die Schulter. Es war Andre der Riese. Herr Masamori sah zu ihm auf. Ganz klein fühlte er sich. Wie hatte es Andre durch die engen Reihen geschafft? Jetzt sah er, dass hinter dem Riesen die Menschen aufgestanden waren und Platz gemacht hatten. Alle starrten die beiden ehrfürchtig an. Es war, als hielte die ganze Halle den Atem an.
Der Riese lächelte freundlich, nickte in Richtung Arena und hob den alten Mann ohne Anstrengung mit einem Arm in die Höhe.
Leicht wie eine Feder fühlte sich Herr Masamori, während ihn der Riese sanft über die Köpfe der Zuschauer hinwegtrug. So schwebte er durch die uferlose Halle, getragen von einer einzigen, riesigen Hand. Die Zuschauer begannen zu klatschen. Die ganze Halle klatschte. Es klang wie ein unendliches Meeresrauschen, und Andre war die einzige, große Welle, die Herrn Masamori trug. In der ersten Reihe ließ Andre ihn sanft zu Boden und zeigte auf einen Stuhl. Das war sein Platz. Herr Masamori setzte sich. Die Menschen lehnten sich verstohlen nach vorn, um einen Blick auf ihn zu erhaschen. Unter dem Stuhl saß ShiShi, die Katze.
Es war heiß in der Halle, und er schwitzte. Andre betrat den Ring. Er trug das Gewand eines Samurai und hatte die beiden Schwerter dabei. In der Mitte des Rings blieb er stehen. Der alte Mann hielt den Atem an. Er hatte das Gefühl zu wissen, was nun passieren würde. Andre wandte langsam den Kopf und sah zu ihm herüber. Er schien auf ihn zu warten. Jetzt begriff Herr Masamori. Er hatte etwas für Andre. Er nahm ein großes Bündel unter seinem Stuhl hervor und trat an den Rand des
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