Zehn (German Edition)
Masamori riss die Ladentür auf. Tatsächlich, der Enkel saß zusammen mit seiner Mutter im Auto. Akira gähnte. »Viel Spaß mit dem Fernseher!« Er hatte den Sportkanal eingestellt.
»Arigatô! Danke!« Herr Masamori verbeugte sich. Gerne hätte er den Enkel in die Arme geschlossen. Tamiko hatte ihr Handy am Ohr, sie winkte, als der Wagen davonfuhr.
In wenigen Tagen war O-bon, das Fest, zu dem der Toten gedacht wurde. Dann kam die Familie zusammen, aß gemeinsam und sprach respektvoll über die Verstorbenen. Herr Masamori würde den kleinen Butsudan, den Altar im Hinterzimmer, schmücken und mit Blumen verzieren. Er würde Birnen auslegen. Seine Frau hatte Birnen geliebt. Überall im Viertel würden Chôchin, kleine Laternen, angezündet, damit die Verstorbenen den Weg zu ihren Familien finden konnten. Sie würden zum Grab gehen, Herr Masamori, Akira, Tamiko und Tekka. Sie würden den Grabstein waschen und weitere Chôchin anzünden.
In den Straßen führten Frauen und Mädchen in Kimonos Bon-odori-Tänze auf, man würde die Musik im ganzen Viertel hören.
Er lächelte. Er fühlte sich seiner Frau an diesem Tag immer ganz nah. Wenn die Familie zusammenkam. Herr Masamori hatte Akira daran erinnern wollen. Aber nun war er schon wieder fort.
Er drehte den Fernseher ein wenig, um besser sehen zu können, und setzte sich hinter den Tresen. Da standen sich zwei riesige Männer gegenüber.
Er drehte den Ton auf und zog den kleinen Sessel heran. Vorsichtig legte er die Füße hoch. Die Schmerzen in der Leiste kamen wieder, aber wenn er die Beine hochlegte, waren sie besser zu ertragen.
Er versuchte zu begreifen, was er sah. Der eine Hüne hatte helles Haar, einen zotteligen Bart und trug nichts außer kurzen gelben Hosen. Er sah grimmig drein, und Herr Masamori verstand nicht, was er sagte.
Da waren viele Leute im Publikum, sie kreischten und klatschten. Der zweite Mann war um einiges größer und breiter. Er hatte braunes, lockiges Haar und wirkte trotz seiner imposanten Statur fast sanftmütig. Seine Haut schimmerte olivfarben, und er hatte etwas Exotisches an sich, das Herr Masamori nicht benennen konnte. Er fragte sich, welcher Nationalität der Hüne wohl sein mochte. Ungar vielleicht? Herr Masamori hatte vor vielen Jahren einmal einen Ungarn gekannt, Herrn Nagy. Der hatte ähnliche Züge gehabt wie der Riese und nicht viel gesprochen. Für ein Jahr hatte er im Haus nebenan gewohnt, und sie hatten einander auf der Straße oft zugenickt. Herr Nagy sprach kein Japanisch, schien aber offen und freundlich. Einmal hatte er Akiras Fahrrad repariert. Akiras kleines, blaues Fahrrad.
Jetzt gab es eine Nahaufnahme. Fasziniert lehnte sich Herr Masamori nach vorn. Was für ein Gesicht! Alles an dem großen Menschen war riesig. Die Nase war lang und fleischig, die Lippen voll und sein Mund so groß wie der eines Karpfens. Jetzt lachte er, und selbst seine Zähne waren überdurchschnittlich groß. Nie zuvor hatte der alte Mann so ein Gebiss gesehen.
Während der blonde, zornige Kämpfer sich vor ihm aufbaute und mit den Armen fuchtelte, blieb der Größere völlig unbeeindruckt und ruhig. Erst jetzt bemerkte Herr Masamori im Hintergrund Tausende von Menschen, eine Halle gefüllt mit Publikum, das im Halbdunkel saß. Es wurde geklatscht und geschrien, die Menschen schienen aufgeregt.
Majestätisch blickte der Riese ins Publikum. Er schien den kleineren Kämpfer völlig zu ignorieren, der jetzt ganz nah herangekommen war und begann, den Größeren zu schubsen. Gleichzeitig schrie er wild, und sein zotteliges Haar klebte an seinem schweißnassen Gesicht. Plötzlich ging alles ganz schnell, der Große packte den kleineren Kämpfer mit einer einzigen kraftvollen Bewegung um die Hüften, hob ihn mit einer Hand hoch und warf ihn wie einen Sack zu Boden.
Herr Masamori zuckte zusammen.
Ein Kommentator sprach aufgeregt auf Englisch. Einiges wurde in Japanisch untertitelt, aber es verwirrte Herrn Masamori mitzulesen. Er verstand nicht so recht, was da vor sich ging, aber es schien ihm, als kämpften da zwei Männer um ihre Ehre.
Jetzt wurden am unteren Bildrand groß die Namen der beiden eingeblendet. Der blonde Kämpfer, er hieß »Hulk Hogan«, wand sich am Boden. Der Große, »Andre, der Riese«, sah unbeeindruckt zu. Ruhig sah er in die johlende Menge, dann hob er seinen massigen Arm und schlug Hulk nieder, der gerade Anstalten machte aufzustehen. Mit einem einzigen Hieb, der ihn
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