Zehn (German Edition)
vorsichtig ab, bis sie glänzten. Dann legte er sie auf den kleinen Altar, den Butsudan, neben das gerahmte Bild der beiden. Das Foto war auf einer kurzen Reise nach Shikoku entstanden. Sie waren am Strand spazieren gegangen und hatten einen Touristen gebeten, ein Bild zu machen. Ihr Haar wehte im Wind.
Dann klingelte das Telefon. Es war Akira. Sie seien gut in Nagasaki angekommen, und Tekka habe Schnupfen. »Wie geht es dir?«, fragte er überraschend.
Herr Masamori überlegte kurz und erwiderte: »Ich werde eine Reise antreten.«
Akira sagte einen Moment lang nichts. »Ach ja? Wo fährst du denn hin?«
Herr Masamori dachte an Andre: »Nach Orlando, in Florida!« Akira zögerte. »Lass uns nächste Woche darüber sprechen«, sagte er.
Herr Masamori holte die Chôchin aus den Kartons und staubte sie ab.
Eine der beiden Laternen hängte er außen an das Ladenschild, die andere über sein Bett.
Kurz musste er verschnaufen. Herr Ogawa würde bald kommen, und er musste alles vorbereiten. Er setzte sich und streichelte ShiShi. Schnurrend rieb sie ihren Kopf an seinem Arm. Er würde sie vermissen.
Er packte die drei Paar Zôri ein, die für Tamiko, Tekka und Akira vorgesehen waren. Er hatte die festlichen, traditionellen ausgewählt, mit seidenem Kreuzband und Reisstrohsohle. Diese Zôri wurden zu festlichen Anlässen und Beerdigungen getragen. Fast bedauerte er, dass er sie nie an Akiras Füßen sehen würde.
Auch Herr Ogawa trug einen Kimono. Sie verbeugten sich lange.
Herr Ogawa fragte nicht, wohin in Golden Gai Herr Masamori wollte. Er wusste es. Er stellte das Radio an. Nariko Sakai sang das »Hanami-Lied«, das alle Menschen kannten. Der alte Mann blickte aus dem Fenster. Tokio zog vorüber. Seine Stadt. In der er geboren war. In der Akira geboren war. In der er seine Frau kennengelernt hatte, in der sie gestorben war. Überall wehten Chôchin im Sommerwind.
Herr Ogawa parkte um die Ecke, und als er aussteigen wollte, bat ihn der alte Mann, im Auto auf ihn zu warten. Herr Ogawa verbeugte sich still.
Erst war er an dem kleinen Laden vorbeigelaufen. Zu viel Zeit war vergangen. Es gab immer noch kein Schild. Als er eintrat, wurde ihm zum ersten Mal bewusst, dass Dr. Chi nicht mehr leben könnte. Was dann?
Eine junge Frau verbeugte sich. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Er schaute sich um, der Laden sah noch genauso aus wie früher. Ein paar Regale waren dazugekommen, aber überall stapelten sich die Kräutersäcke mit den kleinen Silberschäufelchen, an die sich Herr Masamori noch gut erinnern konnte.
Er verbeugte sich »Ist Dr. Chi da?«
Die Frau sah ihn erstaunt an. »Dr. Chi arbeitet nur noch am Montag.«
Der alte Mann verbeugte sich tief. »Wenn es nicht zu viel verlangt ist, würde ich Sie bitten, kurz mit ihm sprechen zu dürfen.«
Die junge Frau sah ihn prüfend an. Dann nickte sie und verschwand hinter einem schweren weinroten Filzvorhang.
Plötzlich bekam Herr Masamori Angst. Wo war Andre? Er hatte ihn den ganzen Tag über noch nicht gesehen. Hoffentlich würde der große Samurai ihre Verabredung nicht vergessen. Er begann zu schwitzen, das Fieber kroch langsam in seine Knochen. Er musste sich am Tresen festhalten.
Endlich raschelte es hinter dem Vorhang, und ein uralter Mann am Stock trat hervor. Herr Masamori erkannte ihn gleich, und auch der Alte schien sich zu erinnern. Er verbeugte sich lange. »Masamori-san! Dass es dich noch gibt!« Er sah ihn prüfend an: »Wir sind beide alt geworden! Komm!«
Sie gingen ins Hinterzimmer und setzten sich auf den Futon, die junge Frau brachte Tee. Der alte Chinese beugte sich vor. Lange studierte er Herrn Masamoris Gesicht. Dann lehnte er sich zurück: »Du bist krank.« Er klang ernst.
Herr Masamori war jetzt ganz ruhig. Er erzählte Dr. Chi, was er wusste, und trug sein Anliegen vor.
Der »Fugu« hörte aufmerksam zu. Als Herr Masamori geendet hatte, sagte er ruhig: »Ich mache dir einen Vorschlag. Wir trinken jetzt beide still unseren Tee zusammen. Wenn du danach immer noch entschlossen bist, helfe ich dir.«
Herr Masamori verbeugte sich. Dann tranken die beiden Männer bedächtig ihren Tee. Mit jedem Schluck kamen Erinnerungen in ihm hoch: wie er seine Frau kennengelernt hatte, in einer Suppenküche in Shibuya, ihr Hochzeitskimono, der Tod seiner Eltern, wie er zum ersten Mal Akira in den Armen gehalten hatte, Herr Ogawas Hochzeit, der alte Ginkgobaum, Tekkas Geburt.
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