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Zehn (German Edition)

Zehn (German Edition)

Titel: Zehn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franka Potente
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aus der Apotheke geholt. Einmal, an einer roten Ampel, hatte er den Eindruck gehabt, dass Herr Ogawa weinte. Er hatte ihn in den Laden gebracht und im Hinterzimmer die Vorhänge zugezogen. Die Schmerzmittel machten Herrn Masamori sofort ruhig und schläfrig. Herr Ogawa drückte seine Hand sehr fest, und Herr Masamori dachte, dass er ihn noch nie so ernst gesehen hatte: »Was willst du tun? Soll ich Akira Bescheid sagen?«  
    Herr Masamori schüttelte den Kopf: »Warte noch … bis nach O-bon.«  
    Ogawa-san sah ihn ernst an, dann nickte er. Bevor er ging, setzte er Tee auf und fütterte die Katze. Dann drehte er das kleine Schild an der Ladentür um. »Geschlossen.«  
    Von wem sollte er Abschied nehmen? Von Herrn Ogawa. Von Akira. Er musste Abschied nehmen von seinem Sohn Akira, den er kaum kannte. Und von Tamiko und Tekka. ShiShi, die Katze, könnte bei Ogawa-san wohnen.  
    Wie viel Zeit blieb ihm?  
    Da fiel ihm der Block wieder ein. Unter größter Anstrengung lehnte er sich zum kleinen Schränkchen neben dem Bett hinüber. Er hatte Andre nicht bemerkt, der ihm jetzt half, die Schublade zu öffnen, und ihm den Block reichte. »Florida. Orlando.« stand darauf.  
    Der alte Mann lächelte dem Riesen zu. Er überlegte. Es dauerte eine Weile, das Fieber lähmte seine Gedanken. Aber er wusste, was zu tun war. »Sollen wir zusammen eine Reise machen, Andre-san?«  
    Der Riese lächelte zurück und nickte. Er würde eine weite Reise machen.  
    Morgen war O-bon. Er musste morgens Birnen kaufen und die Chôchin anzünden, sobald es dunkel wurde. Bevor er einschlief, fiel ihm noch ein, dass der alte Koffer unter seinem Bett lag.  
    Dann vergingen Stunden. Wolken zogen vorüber, die Sonne versank, es wurde kühler, ein leichter Wind kam auf. Der Ginkgo wiegte seine Blätter im Nachtwind.  
    Dann war er erwacht, etwas hatte sich im Zimmer bewegt, er war nicht allein. Er horchte. Da war ein tiefes, ruhiges Atmen, das einen großen Resonanzkörper erahnen ließ. Die Umrisse waren jetzt deutlicher zu sehen. Ein gewaltiger Körper. Ein riesiger Schädel, wuchtige Arme. Langsam gewöhnten sich Herr Masamoris Augen an die Dunkelheit. Der Anblick des riesigen Samurai machte ihn unfassbar glücklich. Schon bald würde er mit Andre seine letzte große Reise antreten. Andre sah Herrn Masamori traurig an, legte den riesigen Schädel schräg, als wolle er etwas sagen. Herr Masamori verstand, er flüsterte: »Heute, Andre, heute gehen wir zu Dr. Fugu!« Er war sich nicht sicher, ob er das gedacht oder gesagt hatte.  
    Er erwachte Stunden später erfrischt und durstig und verspürte eine überraschende Aufregung, eine kleine Freude in seiner Brust. Heute war ein besonderer Tag. Es gab viel zu tun.  
    Herr Masamori kleidete sich an. Heute würde er den schwarzen Kimono tragen, den er nur zweimal im Jahr trug. Es dauerte eine Weile, bis er den Kimono richtig gefaltet und den Obi geknotet hatte. Er machte Tee und überlegte, womit er beginnen sollte. Er rief Ogawa-san an. Als er Herrn Masamoris Stimme hörte, schien er erleichtert.  
    Der alte Mann versicherte, dass er sich gut fühle, und nachdem sie kurz über das Wetter gesprochen hatten, fasste sich Herr Masamori ein Herz: »Bitte, fahr mich heute Nachmittag noch einmal nach Golden Gai.«  
    Am anderen Ende der Leitung blieb es lange still. Herr Ogawa sprach leise und vorsichtig: »Was hast du vor?« Vielleicht ahnte er den Grund der Fahrt.  
    Der alte Mann überlegte sich seine Worte gut: »Bitte, frag nicht. Hilf mir einfach. Es ist heute O-bon.«  
    Herr Ogawa klang matt: »So sei es.«  
    Als der alte Mann vor die Tür trat, hörte er die Klänge der O-bon-Tänze. Langsam ging er durch sein Viertel, vorbei am alten Ginkgobaum, an der kleinen Udon-Suppenküche, dem Friseur und dem kleinen Laden, in dem Frau Michi ihre Fächer verkaufte.  
    Überall hängten Menschen Chôchin auf. Er machte kurz halt, als eine Prozession tanzender Frauen und Mädchen in weißen Kimonos vorbeizog. Einige Touristen machten Fotos.  
    Heute kamen die Ahnen. Die Toten waren unter ihnen. Es gab keinen besseren Tag, um zu gehen.  
    Er kaufte einige Birnen. Sorgfältig suchte er die schönsten aus. Dann besorgte er Katzenfutter und kaufte beim Sushistand um die Ecke ein Stück Tamagoyaki.  
    Im Laden war es heiß. Er machte sofort den kleinen Ventilator an. Den Ventilator, den seine Frau gekauft hatte, wenige Tage bevor sie gegangen war.  
    Er rieb die Birnen mit einem Küchentuch

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