Zehn (German Edition)
Brentwood, Los Angeles, lebte bei den Shaws, ihrer Gastfamilie, und hätte ein Jahr bleiben sollen.
Jim, ihr Gastvater, war Inhaber einer Werbefirma, er fuhr einen 60er-Jahre-Sportwagen in Metallicblau und ging jedes Wochenende mit Derek, dem zwölfjährigen Sohn, surfen. Er hörte sehr laut Led Zeppelin und nannte sie »sweetie«. Wenn er lachte, blitzten seine Zähne weiß.
Anfangs hatte sie hinter vorgehaltener Hand gekichert, später lachte sie lauthals mit.
Jamie, seine Frau, hatte langes blondes Haar, trug fast nur Jeans, weite Hippieblusen und Flip-Flops. Sie war trotz ihrer fast sechsundvierzig Jahre wunderschön, fand Naski. Sie strahlte eine Wärme aus, die Naski nicht kannte. Oft nahm Jamie sie lachend in den Arm, und sie genoss Jamies warmen Geruch von Muffins, Vanille und Strand. Am Wochenende wachte sie zu Jims Musik auf, hörte Jamies warmes Lachen aus der Küche, und die Sonne fiel golden auf ihr Kissen.
Naski hatte sich nie zuvor in ihrem Leben so leicht gefühlt und war so abenteuerlustig gewesen.
Einmal im Monat zog sie den Kimono an. Und dann brachten Jim oder Jamie sie für ein Wochenende nach Sherman Oaks, zu den Oshis. Der Cousine zweiten Grades.
Dann hielt Naski wieder beim Lachen die Hand vor den Mund, es wurde sich verbeugt und grüner Tee getrunken. Frau Oshi kochte japanisch, und sie sprachen von Tokio.
Naski war jedes Mal froh, wenn die Shaws sie wieder abholten.
Japan war in kurzer Zeit sehr weit weg von ihr.
Amerika. Manchmal konnte Naski ihr Glück nicht fassen. Sie liebte die zwanglose Welt dort, die nur aus Vornamen bestand, in der man spontan aß, was man wollte und wann man wollte, Wendy’s, Jack in the Box und Frozen yogurt von Pinkberrys. Sie liebte die individuelle Mode, die die Mädchen ihres Alters dort trugen, die offenen Gespräche über Jungs, Musik und das kommende Wochenende. Sie hatte sich an Umarmungen und Wangenküsse gewöhnt, an mädchenhaftes, schrilles Begrüßen und »shit«, »fuck« und »awesome«.
Die Highschool war einfach. In den meisten Fächern war Naski ihren Klassenkameraden voraus. Sie hatte schnell Freundinnen gefunden. Susan aus ihrem Literaturclub, Shelly, mit der sie im Hockeyteam spielte, und Jane und Jill, mit denen sie zusammen in der Anatomieklasse eine Katze sezierte.
Und dann gab es noch Teddy. Ihren ersten richtigen Freund. Blonde Locken, blaue, freche Augen. Sie hatte ihn beim Lunch kennengelernt. Er hatte sich einfach an ihren Tisch gesetzt. »Hi! Are you new here? I’m Teddy.«
Von da an saß er jeden Tag neben ihr. Nach der Schule fuhr er sie in seinem Pick-up-Truck nach Hause. Er brachte sie zum Lachen. Seine Hände waren gebräunt. Er trug ausgelatschte Turnschuhe und Shorts.
Irgendwann gingen sie zusammen ins Kino. Bevor Teddy sie zum ersten Mal küsste, hatte sie seine Wärme neben sich so sehr gespürt, dass sie vor lauter Aufregung dem Film nicht folgen konnte. Seit dem Tag waren sie ein Paar. Naski und Teddy.
Teddy, der in der Schulband Gitarre spielte, der wunderbar lachte, sie betrunken Huckepack nahm, mit der größten Selbstverständlichkeit seine Finger durch ihr Haar gleiten ließ und ihren Bauchnabel streichelte, als gehörte er nur ihm.
Dann war alles so weit weg. Weit weg waren japanische Tradition, die tägliche Stille beim Essen, der Kimono am Wochenende, Tempelbesuche, die strengen Blicke des Vaters, das Gefühl, jeden Tag die Beste sein zu müssen, um auf eine Eliteuni gehen zu können, Sashimi und Mochi. Jetzt trank sie Kaffee, Fat free latte, aß Tacos und Burger und hatte einige Kilo zugenommen. Doch plötzlich war Tokio wieder ganz nah gerückt. War in ihre kalifornische Welt gestürzt wie ein gleißender Meteorit.
Naski weinte, als sie die E-Mail aus Tokio bekam. Der Großvater war gestorben, ihr Vater hatte ihr sofort ein Rückflugticket gebucht.
Sie weinte um den Großvater. Er war immer gut zu ihr gewesen, und als Kind hatte er mit ihr gemalt oder ihr vorgelesen. Aber die meisten Tränen vergoss sie, weil sie nicht zurückwollte nach Japan. Weil sie Angst hatte, dass sie nicht nach Los Angeles würde zurückkehren dürfen.
Der Vater hatte in seiner E-Mail erklärt, ihre Heimkehr sei auf unbestimmte Zeit.
Die Shaws waren betrübt und beunruhigt, als sie Naskis Tränen sahen. Sie ließen sie von der Schule beurlauben. Es war kaum Zeit, Abschied zu nehmen. Schon am nächsten Abend ging der Flieger. »Have a safe flight, sweetie! We’ll
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