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Zehn (German Edition)

Zehn (German Edition)

Titel: Zehn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franka Potente
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lebendig Tokio doch war! Sie gingen langsam, und Herr Masamori vergaß für eine Weile das Krankenhaus. Lange war er nicht in Golden Gai gewesen. Früher hatte man sich dort vorsehen müssen. Es hatte geheißen, man müsse dort jemanden kennen, um wirklich sicher zu sein. Herr Masamori hatte einen alten Chinesen gekannt, Dr. Chi. Jeder und keiner kannte Dr. Chi in Golden Gai: Er verkaufte Kräuter und Medizin, die er zum Großteil selbst herstellte in einem winzigen Laden ohne Schild.  
    Man nannte ihn auch »Fugu«, denn es hieß, dass Dr. Chi auch tödliches Kugelfischgift verkaufte. Es hieß, man müsse bei ihm vorsprechen und erklären, wozu man das Gift benötige.  
    Herr Masamori hatte früher regelmäßig Bast und Garn bei einem Händler gekauft, der in Golden Gai lebte. Wenn er dorthin fuhr, um die Rechnungen zu begleichen, hatte er oft um die Ecke mit Dr. Chi ein Schwätzchen gehalten und hin und wieder Kräutertees gekauft.  
    »Erinnerst du dich an ›Fugu‹?«, fragte er Ogawa-san. Der stutzte. »Den Giftdoktor?« Herr Ogawa räusperte sich, das Thema war ihm unangenehm.  
    »Ja, den alten Chinesen. Er hatte seinen Laden dort, in der Seitengasse. Ich frage mich, ob es ihn noch gibt.«  
    Herr Ogawa schwieg eine Weile. Dann verbeugte er sich leicht und sagte in die Verbeugung hinein: »Ich glaube nicht, dass es ihn noch gibt. Denke nicht weiter über ihn nach.«  
    Der alte Mann war gerührt von Herrn Ogawas Sorge. Sie kannten sich lange, vieles musste nicht ausgesprochen werden. Vor langen Jahren waren beide, damals noch mit Herrn Ogawas Vater, durch Golden Gai gelaufen. Die beiden Männer hatten den Teenager auf sein erstes Bier mitgenommen. Als Herr Masamori ihn daran erinnerte, musste Herr Ogawa lachen. »So lange ist das her! Ich war am Ende des Abends fürchterlich betrunken! Von zwei Bier!«  
    Der Trubel in Golden Gai erinnerte Herrn Masamori daran, dass es eine ganze Welt außerhalb des Ladens gab. Seine Welt war in den letzten Jahren sehr klein geworden.  
    Die Suppe tat gut, und Herr Masamori trank sogar etwas Sake. Sie sprachen über Herrn Ogawas Vater und tauschten Anekdoten aus Herrn Ogawas Kindheit aus. Eine Weile hatte Andre unsichtbar mit am Tisch gesessen. Es tat dem alten Mann gut zu wissen, dass er da war. Er aß seine halbe Schale Suppe, und langsam machte sich eine wohlige Wärme in seinem Körper breit.  
    Herrn Ogawas Wangen röteten sich bald. Es wurde Zeit zu gehen.  
    Am nächsten Mittag würden sie sich wieder im kleinen Toyota durch Tokios Verkehr wühlen müssen und zum Krankenhaus fahren.  
    In dieser Nacht kam das Fieber zurück. So, als hätte es ihn für einige Stunden gnädig verschont, um ihn jetzt mit noch größerem Appetit zu verschlingen. Herr Masamori hatte das Gefühl, bei lebendigem Leib zu verbrennen. Er schaffte es, sich komplett zu entkleiden und das Fenster zu öffnen. Schweiß rann ihm über das Gesicht. Dann kam der Samurai, mit besorgtem Gesicht hockte sich der Riese neben sein Bett und kühlte Herrn Masamoris Gesicht mit seiner großen Hand, irgendwann schlief der alte Mann ein.  
    Am nächsten Mittag war er noch immer erschöpft von der Nacht. Als er mit Herrn Ogawa im Auto saß, dachte er an das Krankenhaus. Er hatte Angst. Was würde der Doktor sagen?  
    Dr. Okura ließ sie nicht lange warten. Er hatte einen Stapel Papier vor sich und sprach ruhig und langsam. Herr Masamori versuchte zuzuhören, zu verstehen. Herr Ogawa saß neben ihm. Herr Masamori versuchte an seinem Gesicht abzulesen, was das Gesagte bedeutete.  
    Morbus Hodgkin. Lymphdrüsenkrebs. Juckreiz. Fieber. Sie sprachen über seinen Körper. Erst jetzt wurde sich der alte Mann bewusst, dass es um ihn ging. Natürlich. Dr. Okura hatte Tests gemacht. Er sagte, dass seine Milz und fast das ganze lymphatische System befallen seien. Sein Husten, das Fieber, der nächtliche Juckreiz, all das seien Symptome eines fortgeschrittenen Stadiums, die Testergebnisse bestätigten dies. Herr Ogawa starrte den Arzt angespannt an.  
    Dr. Okura wandte sich jetzt direkt an Herrn Masamori: »Ich will ganz offen zu Ihnen sein. Eine Chemotherapie ist in Ihrem Stadium nicht mehr zu empfehlen. Ich werde Ihnen Schmerzmittel verschreiben.« Er zögerte. »Wenn ich das sagen darf: Nehmen Sie Abschied.« Es schien, als lächelte er.  
    »Nehmen Sie Abschied.«  
    Der Satz echote noch den Rest des Tages in seinen Gedanken.  
    Herr Ogawa hatte ihn nach Hause gefahren. Sie hatten die Schmerzmittel

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