Zehn Jahre nach dem Blitz
beraubt.
Denn wenn er die beiden Dokumentarfilme Fischers aus dem Jahre 1982 noch nicht verstand, dann verstand er überhaupt nichts.
Denn Yancys Substanz, was er war und wie er entstanden war – und daher ihre Existenz, die Brutstätte aller Yance-Leute, wie er selbst, wie Verne Lindblom und Lantano, wie der entsetzliche, mächtige Brose selbst –, all das beruhte auf den Dokumentarfilmen A und B. Fassung A, die für Wes-Dem produziert worden war, und B, die Fassung für Volks-Pakt. Weiter konnte man nicht zurückgehen.
Er war um Jahre zurückgeworfen worden. Bis zu den Anfängen seiner beruflichen Laufbahn als Yance-Mann. Und wenn ihm das widerfahren konnte, so konnte das gesamte Gefüge ins Wanken kommen; er spürte, wie die Welt, die ihm vertraut war, unter seinen Füßen zerfiel.
10
Er nahm die Spulen entgegen und ging mit starrem Blick zu einem freien Tisch und Bildschirm hinüber – dort angekommen, stellte er fest, daß er irgendwo in der Schlange der Wartenden seine Mappe abgestellt und nicht wieder aufgenommen hatte – daß er ohne sie weitergegangen war, sie mit anderen Worten absichtlich und aus gutem Grund vergessen und sich auf immer von seiner unter Qualen entstandenen, handgeschriebenen Rede der vergangenen Nacht getrennt hatte.
Und das bewies die Richtigkeit seiner Annahme. Er war in ernsthaften Schwierigkeiten.
Welchen der beiden Dokumentarfilme, fragte er sich, muß ich als ersten über mich ergehen lassen?
Er wußte es wirklich nicht. Schließlich griff er, mehr oder weniger zufällig, den Film A heraus. Schließlich war er doch ein Bewohner von Wes-Dem. Der Film A, der Gottlieb Fischers erster von zwei Versuchen war, hatte ihn immer mehr beeindruckt. Denn wenn man sagen konnte, daß in einem von ihnen ein Körnchen Wahrheit steckte, dann wahrscheinlich in der Fassung A. Begraben jedoch unter einem Haufen von manipulierten Lügen, der so groß war, daß er – und das machte beide Dokumentarfilme zur grundlegenden, hochgeschätzten Quelle, aus der alle Yance-Leute schöpften – eine Monstrosität darstellte.
Allein mit seiner Hülle der »großen Lüge« hatte er sie alle vor Jahren in ihre Schranken verwiesen. Kein Zeitgenosse und kein zukünftiger Mensch war in der Lage, mit aufrichtiger Miene die Lügenmärchen dieser arglosen, glücklichen Tage zu erzählen. Der westdeutsche Filmemacher Gottlieb Fischer, Erbe der UFA, der Filmgesellschaft, die im Dritten Reich so tief mit Goebbels Propagandabüro verstrickt war – dieser wirklich großartige, einzigartige Künstler des überzeugenden Films, hatte die Dinge ins Rollen gebracht, und zwar nicht mit einem Wimmern, sondern mit einem gottverdammt schrecklichen, ehrfurchtgebietenden Schlag. Aber Fischer hatte natürlich über gewaltige Mittel verfügt. Beide Militärmächte, Wes-Dem wie Volks-Pakt, hatten ihm jede finanzielle und geistige Unterstützung geboten und ihn mit den legendären Filmstreifen vom Zweiten Weltkrieg versehen, die beide Mächte in ihren geheimen Filmarchiven verwahrten.
Die beiden Dokumentarfilme, die so geplant waren, daß sie gleichzeitig anlaufen konnten, handelten Tom Zweiten Weltkrieg, der 1982 für viele Leute noch im Bereich der Erinnerung lag, da er erst siebenunddreißig Jahre vor der Veröffentlichung der Filme zu Ende gegangen war. Ein amerikanischer Soldat, der 1945 zwanzig Jahre alt war, hatte, wenn er in seinem Wohnzimmer in Boise, Idaho, vor dem TV-Gerät saß und die erste von fünfundzwanzig Episoden des Films A sah, erst das Alter von siebenundfünfzig Jahren erreicht.
Während Joseph Adams den Blick auf den Bildschirm heftete, dachte er bei sich, daß sie sich eigentlich deutlich genug erinnern mußten, um zu erkennen, daß das, was sie auf ihren TV-Schirmen sahen, die reine Lüge war.
Vor seinen Augen tauchte das winzige, beleuchtete, klar umrissene Bild Adolf Hitlers auf, der zu den bezahlten Handlangern des Reichstages Ende der dreißiger Jahre sprach. Der Führer war in scherzhafter, jovialer, ausgelassener Stimmung. Diese berühmte Szene, die jeder Yance-Mann in- und auswendig kannte, stellte den Augenblick dar, in dem Hitler seine Antwort auf die Forderung Roosevelts gab, die Grenzhoheit eines Dutzends kleiner europäischer Staaten zu garantieren. Einen nach dem anderen, las Adolf Hitler die Namen der Staaten, die diese Liste nannte, und seine Stimme hob sich bei jedem, und bei jedem brachen die angeheuerten Clacqueure, übereinstimmend mit dem wachsenden Vergnügen des
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